Europa am Ende (Subpolarural Juli 2023 – Russland)

ручья Олений

Mit der Eskalation des Krieges in der Ukraine und den verhängten Sanktionen des sogenannten kollektiven Westens gegen Russland wurden Reisen nach Russland schwierig jedoch nicht unmöglich.
Wir hatten unsere Reise nach Russland bereits letztes Jahr geplant, mussten sie aufgrund der Weltpolitik jedoch verschieben. Selbst eine Woche vor unserem Start brachte der „Marsch der Gerechtigkeit“ der „Musikanten“ unsere Pläne ins Wanken. Zum Glück glätteten sich die Wogen so schnell, wie sie sich erhoben hatten. Jetzt, gründlich vorbereitet, konnte es Anfang Juli endlich losgehen – zu einer Wanderung durch das Ural-Gebirge am Ende Europas…

Ostwärts

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Von Danzig fahren Busse nach Kaliningrad/Königsberg.

Erst einmal hieß es mit dem neuen Deutschlandticket der Bahn von Freiburg nach Mannheim fahren. Von Offenburg nach Karlsruhe hatte ich nur noch im Waggonvorraum auf der Gepäckablage einen Platz gefunden. 49 Euro schienen noch zu billig zu sein…
Kulinarisch begann unser Urlaub mit Lammschulter in Krügers Restaurant auf dem Lindenhof in Mannheim…
Die Zugverbindung von Mannheim nach Danzig war nicht die schlechteste. Wir mussten nur einmal umsteigen, in Berlin Hauptbahnhof. Was auch nicht schlecht war, die Bahn war pünktlich! Muss ja mal gesagt werden. Auch Danzig erreichten wir pünktlich, kurz vor halb Sieben am Abend.
Wir hatten schon in Deutschland unsere Unterkunft gebucht, das Hostel „Universus“. Es liegt in der Altstadt, vom Bahnhof sind es nur etwa 20 Minuten zu Fuß. Trotz Pünktlichkeit konnten wir nicht mehr viel unternehmen. Die Zeit reichte noch, um „Klogeld“ zu tauschen, einen Stadtplan zu kaufen (der nichts taugte) und essen zu gehen (Wurst und Hoffnungs-Speck).

Leider gab es im Hostel kein Frühstück, nur eine Küche mit Wasserkocher für den Morgenkaffee. Aber bis zu den Restaurants war es nicht weit. Die polnische Küche gab sich international. Mit Schakschuka und Himbeertee, der 2% Himbeere enthielt, eröffnete ich den Tag. Anne entschied sich für was bayrisches: Weißwurst mit Pflaumen-Zwiebel-Chutney…
Bis zur Abfahrt nach Kaliningrad blieb uns noch der ganze Vormittag. Zeit genug, um durch die Altstadt zu flanieren. Nicht genug Zeit, um sich den Sehenswürdigkeiten von Danzig intensiver zu widmen. An der Motlawa wurden neue Häuser gebaut. Betonblöcke die anschließend eine Ziegelfassade erhielten um ihren hanseatisch-historischen Schein zu wahren…
Der Bus nach Kaliningrad kam pünktlich. Nun wurde es ernst. Was würde uns erwarten, als Gäste eines „unfreundlichen Landes“? Würden die Russen mit Dreck auf uns werfen?

Der Bus war erstaunlich voll. Über Elbląg (Elbing) ging es auf der ehemaligen Reichsautobahn Berlin – Königsberg in Richtung Grenze, die wir nach etwa 1 ½ Stunden erreichten. Der Grenzübergang war neu. Grzechotki – Mamonovo 2, seid letztem Jahr in Betrieb, soll er für eine zügige Abfertigung sorgen. Nun ja, der Grenzübergang existiert, alles Weitere scheint Wunschdenken zu sein.
Pünktlich erreichte unser Bus die polnisch-russische Grenze. Nach mehr als 4 Stunden durften wir endlich weiterfahren! Der Grund für die lange Wartezeit war ein Paar aus der Ukraine. Erst widmeten sich die Polen den Beiden, anschließend wurden sie von den Russen ausgiebig interviewt. Wir standen derweil draußen vor dem Bus und harrten der Dinge die da kommen würden. Das Grenzpersonal hatte Schichtwechsel, nichts tat sich. Der Spätbus aus Danzig fuhr ein, es tat sich noch immer nichts. Endlich gab unser Fahrer das Signal zur Abfahrt, es dämmerte bereits, die beiden Ukrainer waren nicht mehr im Bus…
Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichten wir Kaliningrad, es war bereits dunkel. Anne hatte von ihrer letzten Russlandreise noch ein paar Rubel übrig, glaubte sie zumindest. So hofften wir auf ein Taxi, dass uns zum Hotel bringen würde. Das Taxi am Busbahnhof stand bereit. Was fehlte war Annes Kleingeld. Sie war sich sicher, es daheim in den Rucksack getan zu haben. Nur jetzt war es nicht auffindbar. Kartenzahlung akzeptierte der Fahrer nicht, nur online-Zahlung. Online?! Was der sich denkt! Wir sind aus Deutschland! Da ist das so eine Sache mit dem Internet. Neuland eben! Was tun?
Ein Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte noch auf, non stop sei dank. Ein Geldautomat in dem Gebäude war unsere Rettung. Anne hob 1000 Rubel ab. Falls der Fahrer kein Wechselgeld hatte oder vorgab keins zu haben, entschieden wir uns noch eine Kleinigkeit zu kaufen. „Kauf dir ein Bier“ schlug Anne vor. Ein Feierabendbierchen, eine gute Idee, fand ich. Das fand die Dame an der Kasse wiederum gar nicht. Als ich die Bierdose (aus Bayern) aufs Band stellte fing sie an zu diskutieren. Es brauchte eine Weile bis wir begriffen: nach 22 Uhr darf in Russland kein Alkohol mehr verkauft werden! Wir mussten das Bier stehen lassen, kehrten noch mal um und holten eine Flasche Zitronenlimonade. Jetzt musste selbst die Kassiererin lachen…
Immerhin hatten wir nun Kleingeld fürs Taxi. Der Fahrer schaltete sein GPS an und los ging es. Die Fahrt kostete 550 Rubel, was wir unter Abzocke verbuchten.
Ich stellte meine Uhr eine Stunde vor, so wie ich es vor drei Jahren tat. Es war eine viertel Stunde vor Mitternacht…
Die Rezeption war nicht besetzt, an der Tür hing ein Schild mit einer Telefonnummer. Anne wollte ja ihre Russischkenntnisse trainieren. Nun bot sich die Gelegenheit…
„Мы забри…“ „…забрав…“ „за_бро_ни_ро_ва_ли“ Also wir hatten halt ein Zimmer gebucht! Es klappte. Kurz darauf kam eine Dame, die uns das Zimmer zuwies. Der erste Tag in Russland war überstanden…

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Der „Platz des Sieges“ (Площадь победы) in Kaliningrad.

Der heutige Tag stand im Zeichen der Finanzen. Wir mussten unsere Euros (Anne) und Dollars (ich) in Rubel umtauschen und das Geld anschließend auf Annes Sberbankkonto einzahlen.
Warum zwei Währungen? Nun, der Grund lag wieder einmal in den Sanktionen gegen Russland. Aufgrund dieser Sanktionen dürfen keine Euro-Banknoten nach Russland eingeführt werden. Ausgenommen waren Russland-Reisende, die einen bestimmten Betrag an Bargeld für den persönlichen Bedarf mitnehmen durften. Was die EU-Bürokraten unter pers. Bedarf verstanden war nicht näher definiert!
Die Einfuhr von US-Dollar war unproblematisch. Bis zu einem Betrag von 10000 USD brauchte man keine Deklaration. Somit gingen wir auf Nummer sicher und hatten beides.
Im März tauschte Anne ihre Euros auf anraten von Olga bei der Energotransbank, da laut ihr der Wechselkurs dort am besten war.
Ein Wechselschalter dieser Bank befand sich damals im Einkaufszentrum „ZФОРТ“ hinter dem Zentralmarkt. Also starteten wir einen Stadtspaziergang. Bis zum Zentralmarkt war es nicht weit und auch das Einkaufszentrum hatten wir bald entdeckt. Nur wo war der Wechselschalter der Bank? Alle Türen des Einkaufszentrums waren verschlossen. Wir drehten eine Ehrenrunde um das Gebäude, konnten aber keinen Hinweis auf den Bankschalter entdecken. Anne war sich nicht mehr sicher, ob wir richtig waren. Sie telefonierte mit Olga von „Privet“. Aber laut ihr waren wir richtig! Zurück zum Zentralmarkt und noch mal eine Runde gedreht. Jetzt hatte das Einkaufszentrum geöffnet. Und jetzt entdeckten wir auch den Bankschalter.
Anne tauschte ihre Euros, ohne Probleme. Dann kam ich dran und damit auch wieder ein Problem. Die Dame durchleuchtete jeden Dollarschein aufs Gründlichste mit dem Ergebnis, dass ich über 400 Dollar zurückbekam. Ein Wechsel sei nur bei der Zentralbank möglich, so die Bankdame. Warum erschloss sich uns nicht.
Ich versuchte mein Glück noch einmal bei einer Wechselstube am Zentralmarkt, leider mit dem selben Ergebnis, meine Dollars waren nicht erwünscht…
Egal, den Großteil des Geldes konnten wir tauschen. Nun mussten wir eine Filiale der Sberbank (СберБанк) finden, um die Rubel auf Annes Konto zu transferieren. Direkt am Platz des Sieges (площадь Победы) leuchtete der grüne Schriftzug einer Sberbank-Filiale zu uns herüber. Das Einzahlen gestaltete sich einfach und bequem. Am Geldautomaten öffnete sich ein Schacht. Anne legte die Scheine rein und die Maschine begann zu rattern. Als das Gerät von der Echtheit der Rubel überzeugt war, schloss sich der Schacht und auf dem Monitor erschien Annes neuer Kontostand. Das war’s!
Zeit etwas zu essen. Auf der Straßenseite gegenüber lud uns Greco Grill ein. Warum nicht mal griechisch essen?
Da morgen unser Flug nach Moskau ging, mussten wir noch herausfinden, wo der Bus zum Flughafen abfuhr. Laut Olga auf jeden Fall vom Busbahnhof Süd. Es gab aber auch eine Haltestelle in der Stadt. Wir fragten uns durch, glaubten auch besagte Haltestelle an der Newski-Straße (ул. Александра Невского, 54.723021, 20.525663) gefunden zu haben, entschieden uns dann aber doch morgen früh zum Busbahnhof zu fahren. Sicher ist sicher!
Auf der Suche nach den besten Restaurants in Kaliningrad war ich überrascht eins direkt bei unserer Unterkunft zu finden. Steindamm 99 (Штайндамм 99), das mussten wir gleich mal ausprobieren! Der Laden schien wirklich gut zu laufen auch wenn er von außen einen, sagen wir, unspektakulären Eindruck vermittelte. Erst einmal wurden wir auf die Warteliste gesetzt. Zum Glück dauerte es nicht lang und wir bekamen einen Tisch im Außenbereich mit Blick auf Kaliningrader Bürobauten…
Baltisches Zanderfilet (Балтийсково Судака) und das Hausbier des Restaurants (пиво Штайндамм 99, ich musste mal was Lokales probieren) waren angesagt. Deutschland Ost (Einsiedler) und West (Maisel’s Weisse, hell und dunkel) waren auch vertreten. Bier kennt keine Sanktionen. So ging auch dieser Tag zur Neige.

Bus Nummer 19 fuhr gegen 8 Uhr nicht weit von unserem Hotel an der Haltestelle „Hotel Kaliningrad“ („Гостиница Калининград“) zum Südbahnhof (Южный вокзал). Die Busschaffnerin verkaufte uns den Fahrschein direkt im Bus, 37 Rubel (mit Geldkarte wären es 4 Rubel weniger). Beim betreten des Busbahnhofgebäudes mussten wir unser Gepäck und uns selbst durchleuchten lassen, wie auf einem Flughafen. Selbst meinen Gürtel mit einer Metallschnalle musste ich ablegen, was zur Folge hatte, dass mir die Hose vom Hintern rutschte…
Der Busfahrschein mit einem Expressbus zum Flughafen Chrabrowo (Храброво) kostete 110 Rubel pro Nase. Die Abfahrtszeit überraschte uns. Auf dem Ticket stand 7:40 Uhr. Jetzt dämmerte es mir. Die Sommerzeit in Russland wurde abgeschafft, somit hätte ich meine Uhr gar nicht umstellen müssen. Die haben hier die gleiche Zeit wie bei uns! (Denn wir haben noch die Sommerzeit.) Nun war auch klar, warum der Supermarkt gestern noch geschlossen hatte. Wir waren einfach zu früh dort gewesen…
Immerhin, Zeit ist ja bekanntlich relativ, so hatten wir jetzt genug Zeit für ein reichhaltiges Frühstück auf dem Flughafen in den Ural-Restaurants („Рестораны Урала“). Dass passte wieder irgendwie…
Bis auf die Tatsache, dass der Check-In-Schalter kurz vor unsern Nasen einer anderen Fluglinie zugeteilt wurde, gab es keine Probleme. Das Flugticket interessierte die Dame am Schalter nicht sonderlich, wichtig waren unsere Pässe. Ein Phänomen was wir auf unserer Reise noch öfter feststellten. Ohne Pass läuft in Russland gar nichts!
Der Flug dauerte sanktionsbedingt 2 ½ Stunden, da es russischen Flugzeugen verboten war über die baltischen Staaten (EU) zu fliegen. Wir flogen also einen großen Bogen über der Ostsee mit Blick auf die Kurische Nehrung in ihrer ganzen Pracht!

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Eine von Stalins „Sieben Schwestern“ – das Wohngebäude am Kotelnitscheskaja-Damm. (Жилой дом на Котельнической набережной)

Pünktlich landete die Maschine in Moskau Scheremetjewo. Bereits auf dem Weg zur Gepäckausgabe informierte uns eine Aeroexpress-Dame über die Möglichkeit mit dem Zug in die Stadt zu gelangen. Der Flughafenzubringer verkehrt alle 30 Minuten zwischen dem Flughafen und dem Weißrussischen Bahnhof (Белорусский вокзал). Falls wir innerhalb von 30 Tagen die Rückfahrt antraten, kostete das Ticket 1400 Rubel und berechtigte zu 4 Fahrten. Das passte!
Der Zug stand bereits abfahrbereit am Gleis, brauchte aber ca. 1 Stunde bis in die Stadt, aufgrund zahlreicher Baustellen. Eine Stunde durfte ich meine Uhr nun vor stellen, diesmal passte es!
Vom Weißrussischen Bahnhof mussten wir zur U-Bahn wechseln. Da auch hier gebaut wurde, gab es auch hier einen Umweg bis in die Moskauer Unterwelt.
Die Marmorhallen der Moskauer Metro waren schon beeindruckend, genau so wie die endlos langen Rolltreppen. Ich hatte das Gefühl in einen Schacht einzufahren…
Wir mussten mit der Linie 5 bis zur Station Комсомольская am Leningrader Bahnhof. Das klappte recht gut. Was gar nicht klappte war unser Hotel zu finden. Hotel Gorod am Leningrader Bahnhof (ГородОтель на Ленинградском вокзале) hieß unser Etablissement. Wir hatten es gebucht da unser Zug nach Inta morgen früh vom Jaroslawler Bahnhof (Ярославский вокзал) abfahren würde. Und dieser Bahnhof befindet sich genau neben dem Leningrader Bahnhof. Nun standen wir vor dem Bahnhofsgebäude, doch von einem Hotel fehlte jede Spur. Wieder begannen wir Ehrenrunden zu drehen. Fragten in einem Café aber ohne Erfolg.
Sollen wir im Bahnhof fragen? Das hieß aber wieder die Hosen runter lassen. Ohne Personen- und Gepäckkontrolle kamen wir nicht ins Bahnhofsgebäude. Vor einem Seiteneingang stand ein Wachmann. Wir fragten. Der Mann wies mit der Hand ins Bahnhofsgebäude. Hm, ein Hotel im Bahnhof? Also doch die Hosen runter lassen! Und siehe da, in der hintersten Bahnhofsecke prangte über einer Glastür der Schriftzug „ГородОтель“. Das Zimmer war gut, das Hotel-Restaurant taugte nichts. Es gab weder Bier noch Wein!
Die Zugfahrt nach Inta am nächsten Morgen würde 36 Stunden dauern. Wir hatten keine Ahnung, ob es ein Zugrestaurant gab oder ob wir anderweitig irgendwie was zu Essen bekommen würden. So war es sicherer heute noch für ausreichend Verpflegung zu sorgen.
Ein Supermarkt „Pjatjorotschka“ („Пятёрочка“) lag gleich um die Ecke… Was brauchten wir für 1 ½ Tage Zugfahrt? Äpfel, Käse, Brot, Mineralwasser, dunkles tschechisches Ziegenbier! Alles gut. Die Deutsche Salami (Колбаса Салями Немецкая) holte die Kassiererin aus dem Korb und fragte: „Wollen Sie die wirklich kaufen?“ „Die ist recht teuer!“ Knapp 300 g kosteten 415,50 Rubel (4,37 Euro). Der Käse im Korb war deutlich teurer, wir behielten unsere Deutsche Salami…
Zurück zum Hotel hieß für mich wieder: Hosen runter lassen. Das nervte gewaltig! Fest stand, heute würde ich den Bahnhof nicht mehr verlassen! Zum Glück gab es ein nettes Restaurant im Gebäude – das „Tägliche Brot“ („Хлеб Насущный“). Brot gab es dort auch, aber auch Schaschlik, Chilenischen Wein und Spaten-Bier…

Nie wieder oben!

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Nie wieder oben!

Der Zug nach Syktywkar (Сыктывка́р), der Hauptstadt der Republik Komi, stand schon auf Gleis 1 bereit. Als durch den Lautsprecher „Boarding-Time“ ertönte und unsere Liegewagenschaffnerin auf dem Bahnsteig erschien, begann unser russisches Zugabenteuer. Die Schaffnerin, eine Babuschka (Ба́бушка) um die 70, wollte wieder nur unsere Pässe sehen mit dem Visum und der Migrationskarte. Die Daten verglich sie sorgfältig mit den Daten in ihrem Handheld Computer, dann durften wir in den Waggon zu unseren Plätzen.
Anne hatte in einem 4er Abteil die beiden oberen Betten gebucht. Ein Fehler wie sich bald herausstellen sollte! Wir hockten uns ans Fenster, abends konnten wir uns ja dann oben hinlegen.
Nach ein paar Minuten erschien ein älteres Paar so um die 60. Die Frau recht korpulent, der Mann kleiner und drahtig. Die Frau bekreuzigte sich als sie das Abteil betrat und schaute mich an, als ob ich der Leibhaftige persönlich wäre… Der Mann verstaute derweil das Gepäck.
Nach einer Weile verschwand die Dame und kam kurz darauf mit der Schaffnerin zurück. Diese versuchte uns zu erklären, dass wir die beiden oberen Plätze hätten. Na ja, das wussten wir. Sie verschwand und kam nach kurzer Zeit wieder und wies wieder auf die oberen Betten. Nun dämmerte es langsam, wir sollten uns oben hinlegen und zwar sofort! Wie naiv wir doch waren. Hatten geglaubt, tagsüber unten zu sitzen und abends würde sich jeder in sein Bett begeben. Nee, die Beiden wollten sich jetzt ablegen. Und nicht nur die Beiden. Ein Blick in die anderen Abteile zeigte uns, dass alle Reisende auf ihren Betten lagen. Vor uns lag also eine 1 ½ tägige Zugfahrt in der Waagerechten…
Die Entscheidung gestern Essensvorräte zu kaufen war richtig. Im Zug gab’s zwar etwas Knabberzeug und eine Dame die durch die Waggons lief und „Мороженое, вкусное!“ („Leckeres Eis!“) rief. Die Eiscreme schmeckte übrigens wirklich lecker! Weitere Speisen gab es nicht. Immerhin lieferte ein Kessel im Gang heißes Wasser für Kaffee oder Tee, zumindest so lange der Vorrat reichte…
Hinter Jaroslawl (Яросла́вль): Unsere Abteilgenossen hatten ihren Mittagsschlaf beendet und die Frau fasste sich in der Tat ein Herz, um mit Anne ins Gespräch zu kommen. Ich blieb ihr offensichtlich weiterhin suspekt. Der Mann schwieg meistens…
Das Gespräch war kurz, doch lies tief in die russische Seele blicken.

Frau: „Из Германии?“ („Aus Deutschland?“)
Anne: „Да, из Германии“ („Ja, aus Deutschland.“)
Eine kurze Pause.
Frau: „Есть ли в Германии много черных людей?“ („Gibt es in Deutschland viele schwarze Menschen?“)
Jetzt machte auch Anne eine kurze Pause.
Dann: „Да, не́сколько.“ („Ja, einige.“)
Es folgte eine längere Pause des Sinnierens von Seiten der Frau. Dann folgte die tiefgreifende Erkenntnis bei der Dame: „Боже любит Россию!“ („Gott liebt Russland!“)

Das Paar war auf dem Weg zu Verwandten des Mannes. Irgendwo in einem Dorf in der Republik Komi. Mit dem Zug geht es bis Kotlas (Котлас) und dann noch 200 km mit dem Bus in das Dorf. Dort, wo es keine Gärten gibt sondern nur Sumpf und Wald, erfuhren wir.
Ein Blick aus dem Abteilfenster und ich wusste wie es in dem Dorf aussah – wir fuhren durch Sumpf und Wald. Ab und zu reckten sich Herkulesstauden am Waldrand in die Höhe als wollten sie den Bäumen Konkurrenz machen. Dann leuchtete wieder roter Iwan-Tee (Иван-чай) (Weidenröschen) zwischen dem Grün der Büsche und Bäume hervor.
Die Waggonschaffnerin saugte mittlerweile die Läufer auf dem Fußboden. Kurz vorher hatte sie zum wiederholten Mal die Toiletten geputzt! In Deutschland ist das nicht nötig. Fahre ich von Freiburg an einem Samstagmorgen in Richtung Schwarzwald, signalisiert das rote Blinklicht über dem Klo, dass dieses wieder mal außer Betrieb ist…

Es war 5 Uhr morgens, wir hielten in Kotlas. Das Paar verließ uns. Anne wurde von der Frau umarmt, ich bekam immerhin ein „До свидания!“ („Auf Wiedersehen!“) zum Abschied! Wir nutzten gleich die Gelegenheit, um uns auf die unteren Betten zu hocken und zu frühstücken.
Zwei Männer kamen irgendwann in unser Abteil, blieben aber nicht lang. Den Rest der Zeit hatten wir das Abteil für uns. Bald zeigte sich das zweithöchste Bauwerk Europas über der Taiga und kündigte somit unser Ziel an. Es ist der 460 m hohe Sendemast des Funknavigationssystems Tschaika.
Pünktlich erreichten wir Inta. Eigentlich heißt die Station Inta 1 oder Oberinta (Верхняя Инта). Es gibt auch ein Inta 2, das ist jedoch ein reiner Güterbahnhof. Der Bahnhof Inta 1 liegt etwa 14 km außerhalb der Stadt. Ob von da ein Bus in die Stadt fuhr wussten wir nicht. Unsere Waggonschaffnerin versuchte über ihr Smartphone ein Taxi zu organisieren, leider ohne Erfolg. So stolperten wir um 22:15 Uhr aus dem Zug und wurden gleich von den Einheimischen herzlich in Empfang genommen. Schwärme von Stechmücken stürzten sich auf jede freie Körperstelle!
Wir flüchteten ins Bahnhofsgebäude. Vielleicht hatte die Dame vom Sicherheitsdienst eine Idee. „Aaaliii“ schallte es durch den Raum, als wir uns bei ihr nach einem Taxi in die Stadt erkundigten. Hinter dem Fenster des Bahnhofskiosk erschien ein Kopf. Ali ist Türke und nicht nur Kioskbetreiber, wenn Bedarf da ist, fährt er auch Taxi. Wir sollten warten, er wollte nur noch den Laden abschließen, dann ging es nach draußen bis zu einem dunkelgrünen Lada.
Im Slalom ging es um die Schlaglöcher in Richtung Inta. „Die sollen keinen Krieg führen, sondern lieber die Straßen reparieren!“ schimpfte Ali. Wir brauchten nicht viel zu reden, Ali war der Alleinunterhalter. So erfuhren wir, dass in Inta und Umgebung früher Kohle abgebaut wurde. Heute seien alle Schächte geschlossen. Viele Menschen sind seitdem abgewandert. Im Winter wäre Inta nur noch mit dem Zug erreichbar, alle Straßen sind dann unpassierbar. Von seinem Deutschunterricht aus Schulzeiten blieben die Wörter „Frau“ und „Haus“ hängen. Zwei wichtige Dinge wie ich fand…
Wir hatten bereits in Moskau unsere Unterkunft in Inta über Yandex gebucht – das Hotel Sparta (Спарта). Es dauerte keine 20 Minuten und Ali hielt vor einem Gebäude aus dem dröhnende Diskomusik schallte – das Hotel Sparta!
„Wollt ihr wirklich hier raus?“ fragte Ali etwas ungläubig. Na ja, immerhin hatten wir doch gebucht. Im Vorraum bei der Rezeption standen Frauen und Männer mit Smartphones und Cocktailgläsern in den Händen. Hier lief eine Hochzeitsparty. Erstaunte Gesichter richteten sich auf uns. Am meisten staunte die Dame an der Rezeption. Offensichtlich hatte sie mit allem gerechnet, nur nicht mit Übernachtungsgästen…
Anne gab wieder das obligatorische „Мы забронировали“ zum besten. „Нет!“ mit einem Kopfschütteln war die Antwort. Anne zeigte die Buchungsbestätigung auf ihrem Smartphone. Ratlosigkeit herrschte. Hier gab es keine freien Zimmer!
Mittlerweile hatte sich eine neugierige Menschengruppe um uns versammelt. Ein Typ, der etwas englisch konnte und schon etwas angeheitert war, viel sichtlich die Kinnlade runter. Er stellte sich als Александр (Alexander) vor.
„Was macht ihr denn hier in diesen Zeiten?“ fragte er erstaunt. Wir waren seine ersten Deutschen, die er real zu Gesicht bekam. Wir erklärten ihm, dass wir hier gebucht hatten und außerdem Internet brauchten. Vielleicht konnte uns der Typ von Nordural helfen. Der war aber nur über Telegram erreichbar. Alexander schwätzte mit der Dame von der Rezeption, die darauf hin verschwand.
Alexander holte sein Smartphone aus der Tasche und gab Anne sein Passwort, so dass sie auf Telegram zugreifen konnte. Es meldete sich der Typ von Nordural – Георгий (Georgij).
Georgij konnte uns ein Zimmer vermitteln für 75 Euro pro Nacht. Das war uns dann doch etwas zu teuer. Inzwischen erschien die Dame von der Rezeption mit ihrer Chefin. Wir könnten im Hotel Sewerjanka (Северянка) ein Zimmer bekommen. Sie rief zwei junge Männer, wir sollten ihnen folgen. Alexander kam auch mit. Einer der Beiden holte sein Auto, wir quetschten uns alle hinein, dann ging es in Intas Innenstadt. Es war bereits kurz vor Mitternacht aber nicht dunkel, dank der nördlichen Lage des Ortes.
Vor einem Häuserblock wurden wir abgesetzt. Ein kaum sichtbares Schild neben der Eingangstür wies darauf hin, dass hier ein Hotel war. Daneben ein Telefonladen, dessen Werbung kaum zu übersehen war.
Wir bekamen ein Zimmer im 4. Stock für 2900 Rubel (etwa 30 Euro) die Nacht, mit Badewanne und einem Klo, wo einem wahrhaftig das Gefühl überkommen musste auf einem Thron zu sitzen…

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Wir bekamen ein Zimmer mit einem Klo, wo einem wahrhaftig das Gefühl überkommen musste auf einem Thron zu sitzen...

Um 11:00 Uhr wollten wir uns mit Georgij oder einfach Igor (Егор) treffen. Igor wird die nächsten Tage unsere Gruppe durch die Berge des Subpolarurals führen. Igor ist so um die 30 von kräftiger Statur und mit seinem Haarschopf ähnelte er einem Kosakenataman, wie ich fand. Er stammt aus Perm und wohnt hier in Inta in der Wohnung eines Freundes aus der Ukraine.
Jetzt führte er uns erst einmal durch die Einkaufszentren von Inta. Wir brauchten unbedingt etwas gegen die Mückenplage. In einem Angelladen gab es das Richtige, laut Igor. „РЕФТАМИД“ gegen Kriebelmücken (Мошка), Stechmücken (Комар) und Zecken (Клещ). Die blaue Spraydose für die Haut, die schwarze Dose für die Kleidung.
Anne brauchte noch ein langärmliges T-Shirt und ich eine SIM-Karte für mein Smartphone damit wir auch ohne WLAN ins Internet kamen. Um was man sich hier so kümmern musste!
Die Dame im Telefonladen von МТС (Мобильные Теле Системы) wirkte etwas erschlagen als sie erfuhr, dass die SIM-Karte für einen Ausländer war. Das hieß für sie Formulare ausfüllen und die Daten meines Reisepasses übersetzen. Dann hatte ich endlich die Möglichkeit für 750 Rubel durch die Welt zu surfen…
Nach einem Bierchen im Кафе Островок (Inselcafé), lud uns Igor noch auf einen richtigen Kaffee zu sich nach Hause ein. Die Fotos auf seinem Smartphone gaben uns einen ersten Eindruck von dem was uns auf der Tour erwarten würde. Es ging durch Wasser, Sumpf und Schnee! Morgen früh wird es losgehen, wir sollten um 5 Uhr bereitstehen.

Im Ural in den Ural

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Im Ural geht’s in den Ural.

Der erste Tag unserer Wanderung war kein richtiger Wandertag. Denn bis ins Gebirge waren es von Inta etwa 140 km durch die nordische Taiga. Pünktlich um 5 Uhr warteten Igor und der Fahrer eines Ural-Lkws unten vor dem Hotel. Wir krabbelten in den Aufbau, der für den Personentransport diente und los ging es. Erst einmal zum Bahnhof, da der Zug aus Moskau um 5:40 Uhr ankam und mit ihm die restlichen Mitwanderer.
Wir waren insgesamt 12 Personen. Igor unser Wanderleiter, Artjom (Артём), Alewtina (Алевтина) und ihre Freundin Tatjana (Татьяна), Aleksander/Sascha (Александр/Саша) und Natalja/Natascha (Наталья/Наташа), Elena/Lena (Елена/Лена) und ihr Sohn Ilja (Илья), aus der Nähe von Moskau, Pawel/Pascha (Павел/Паша) aus Syktywkar, der als Elektromonteur auf einem Gasfeld arbeitet, Juri (Юрий) ein Grundschullehrer für Mathe und IT aus einem Dorf in Komi sowie Anne und ich.
Als alle Personen samt Rucksäcken verstaut waren konnten wir starten. Anfangs führte die Route noch recht erträglich über Betonstraßen. Doch bald bogen wir auf einen unbefestigten Weg ab. Links und rechts der Piste erstreckte sich Wald, Wald und nochmals Wald. Nun gut, ab und zu gab es auch wieder ein Sumpfgebiet. Schlaglöcher, Mulden und Geröll sorgten für optimalen Fahrspaß. Einige Male hätte es mich fast vom Sitz katapultiert…
Bald blieb der Wald hinter uns und wir fuhren durch eine tundraartige Landschaft. Am Horizont zeigten sich schneebedeckte Berge. Als am Straßenrand ein Teil einer Kette von einem Kettenfahrzeug auftauchte hielten wir und der Fahrer hängte das Teil hinten an den Lkw, stieg ein und fuhr weiter. Hinten schepperte das Metallteil.
Wir fragten uns wozu das gut war? Vielleicht wollte er das Eisen in Inta als Schrott verkaufen, witzelte ich. Anne dagegen war der Meinung, das Ding diente als Gegengewicht damit wir nicht umkippen wenn unser Fahrzeug auf der Holperstraße zu sehr Schräglage bekam… (Sehr beruhigend!)
Nach ein paar Kilometern hielten wir erneut und der Fahrer hing das Kettenteil wieder ab und ließ es auf der Straße zurück.
Nach über 5 Stunden hörte die Buckelpiste abrupt auf. Vor uns wälzten sich die Fluten des Flusses Kozhym (Кожым) in ihrem Bett. Schon wurde unser Lkw vom Wasser umspült und nach 2 Minuten waren wir am gegenüberliegenden Ufer, Zeit für die Mittagspause.
Ein überdachter Unterstand mit Tisch und Bänken lud uns förmlich ein. Das Bärenwarnschild störte nicht, die Mücken dagegen sehr.
Nach einer halben Stunde ging es weiter. Gelbe Schilder mit der Aufschrift „Национальный парк Югыд ва“ (Nationalpark „Югыд ва“) zeigten sich.
Der Nationalpark beheimatet die einzigen Taiga-Wälder Nordeuropas. Außerdem beherbergt er ausgedehnte Feuchtgebiete, bestehend aus Flüssen, Seen und Sümpfen. „Югыд ва“ aus der Komi-Sprache bedeutet soviel wie „lichtes (helles) Wasser“ („Светлая Вода“).
Als nächstes zeigte sich das Goldabbaugebiet „Tschudnoje“ („Чудное“) am Oberlauf des Flusses Balbanju (Балбанью). Das Bergbauunternehmen „Inta-Gold“ („Золото Инты“) hat hier eine Lizenz zur Entwicklung des Gebietes, um einen Goldabbau zu ermöglichen. „Чудное“ und „Югыд ва“ – Wirtschaft und Naturschutz prallten hier mit Wucht aufeinander.
Nach insgesamt 8 Stunden Ural-Rodeo erreichten wir endlich unser Ziel, die Basis „Желанная“ oder „Желанное“ (Želannaja -oje, die oder das Gewünschte) am Großen Balbanty-See (Озеро Большое Балбанты).
Nun wurde die Ausrüstung kontrolliert. In der Packliste, die wir vorab von „Nordural“ bekamen, standen recht seltsame Dinge drin: so zum Beispiel ein Rucksack 100 bis 120 Liter. Wir wollten doch nicht den ganzen Ural mitnehmen… Mit meinem 70-Liter-Rucksack bin ich bis jetzt sehr gut zurecht gekommen. Watstiefel, hatten wir nicht. Ein „Подпопник“, also ein „Arschkissen“! Das kannten wir ja schon von unserer Tour zum Baikalsee. Hatten wir aber auch nicht dabei.
Jeder bekam von Igor einen wasserdichten Sack, falls jemand ins Wasser fiel, einen Sack voll Essensvorräte, etwa 5 bis 6 Kilo und eine Tüte mit Naschereien für trübe Momente. Eine Zuckertüte für Uralwanderer sozusagen. Wandern sollte ja Spaß machen…

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Wir laufen mitten durch mehrere Arme des Flusses Balbanju (Балбанью), die hier nicht besonders tief sind.

Anne schnappte sich noch schnell das letzte Paar Watstiefel, denn die erste Flussquerung stand uns schon nach wenigen Metern bevor. Pünktlich zum Start fing es auch noch an zu regnen. Jetzt hatten wir Wasser von oben und von unten. Wir liefen mitten durch mehrere Arme des Flusses Balbanju (Балбанью), die hier nicht besonders tief waren. Trotzdem, das Wasser lief in meine Schuhe, die darüber gezogenen Gamaschen nützten rein gar nichts!
Neben dem Moskitospray hatte ich noch einen Schlupfanorak mit Moskitonetz dabei, um mir die Plagegeister der europäischen Taiga vom Hals zu halten. Der Anorak hielt zwar einem kurzen Regenschauer stand, jedoch keinem Dauerregen. Und nach dem sah es grad aus. Da half nur noch der Poncho. Jetzt wurde es beim Laufen aber so warm, dass ich bald im eigenen Saft schwamm. Irgendwie war der Anorak eine Fehlinvestition. Das Spray schützte auch nur eine Weile. Da waren beispielsweise Sascha und Natalja besser ausgerüstet. Auf dem Kopf trugen sie Hüte mit breiter Krempe und einem leichten Moskitonetz darüber.
Als der Bach hinter uns lag, folgten wir einem Fahrweg, der vom Bergbaugebiet kam. Bald endete der Weg wieder am Bach. Wir querten jetzt aber nicht, sondern folgten einem Trampelpfad geradeaus und direkt in einen Sumpf.
Schwarze Modderpampe schmatzte unter den Schuhen. Dunkle Rinnsale ergossen sich in Richtung Bach. Ein großer Schritt reichte oft und man stand wieder auf einigermaßen festem Boden. Manchmal konnte es aber auch passieren, dass der Fuß bis über die Knöchel im Schlamm versank. Jetzt war ich im Vorteil. Die Schuhe waren eh schon nass aber sie hielten.
Anne dagegen steckte bald so fest in dem Morast, dass sie zwar ihren Fuß herausziehen konnte, ihr Watstiefel aber blieb im Schlamm stecken. Nur mit vereinten Kräften schafften wir es, sie mit samt Stiefel aus dem Dreck zu ziehen…
Es ging über eine weite Ebene, rechter Hand erschien das Lager von Rentierhirten. Große Schlitten standen vor Wohncontainern, dazwischen sprangen Hunde hin und her.
Ab jetzt wurde der Weg besser. Der Sumpf lag hinter uns, unter uns der Kleine Balbanty See (озеро Малые Балбанты). Nach fast 5 Stunden laufen durch Regen, Sumpf und Schwärmen von Stechmücken, hatten wir unser Tagesziel erreicht. Eine Anhöhe über dem Fluss Balbanju (Балбанью).
Als das Zelt stand, legten wir uns rein. Ich plünderte meine „Zuckertüte“ und kam erst raus als Igors Ruf erschallte: „Ужинать!“ (Abendessen).

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Eine Anhöhe über dem Fluss Balbanju (Балбанью) ist unser erstes Zeltbiwak.

„Завтракать!“ (Frühstücken!) Igors Ruf trieb uns aus den Schlafsäcken. Das Frühstück am nächsten Morgen bestand nicht nur aus Nudelsuppe mit Brot, es gab auch Kaffee! Annes größte Sorge war damit genommen…
Sie wollte auch etwas zum Frühstück beitragen und bot unseren löslichen Kaffee an. „Das wäre sonst egoistisch!“ war ihre Begründung. „Dann gibt es keinen Feierabendkaffee mehr, das wäre sonst egoistisch!“ war mein Versuch sie nochmal umzustimmen. Ohne Erfolg! Allerdings war meine Sorge unbegründet, von löslichem Instantkaffee war Igor nicht wirklich begeistert. Er wollte was Gescheites…
Um 10 Uhr waren wir marschbereit, die Berggipfel hüllten sich in graue Wolken und pünktlich zum Start fing es wieder an zu regnen. Kurz darauf erwartete uns die erste Flussquerung und schon hatte ich wieder nasse Füße…
Bald verließen wir das Tal des Balbanju. Weit hinten im oberen Tal grasten Rentiere. Ein Hund kam uns besuchen und bettelte nach Leckerlis. Am Wegesrand tauchten hin und wieder Hinweisschilder auf mit einem Pfeil und dem Wort „Манарага“ (Manaraga). Das war der Berg zu dem wir wollten. Allerdings noch nicht sofort. Wir ließen den Wegweiser Wegweiser sein und folgten einem Pfad zum Waldik-See (озеро Валдик). Auch hier graste eine Gruppe Rentiere und auf dem See glitt ein Pärchen Schwäne übers Wasser.
Der Weg wurde steiler und ein Schneefeld zeigte sich unterhalb des Waldik-Passes (перевал Валдик). (Auf manchen Karten auch перевал Вебера genannt.)
Hinter dem Pass begann das Tal des Limbekoju-Flusses (рекa Лимбекою). Artjom schien etwas entdeckt zu haben. Er ging in die Hocke und grub eine kleine Pflanze samt Wurzel aus. Nachdem er die Wurzel in einem Bächlein gesäubert hatte, zerbrach er sie in kleine Stücke und steckte die Brösel in seine Wasserflasche. Igor tat dasselbe. Goldwurzel (Золотой корень) oder bei uns (Rosenwurz (Rhodiola rosea)) wird in Russland als Heilpflanze genutzt, die bei Stress hilft, das Erinnerungsvermögen und die Potenz steigern soll. Also her mit der Wurzel und rein ins Trinkwasser sagten wir uns…
Dem noch jungen Limbekoju folgten wir nun zu unsrem zweiten Pass, dem Zig-Zag-Pass (перевал Зиг-Заг). An einem Geröllbrocken zeigte sich tatsächlich mal eine Markierung als roter Punkt. Nach 6 ¼ Stunden standen wir im Pass und damit auf dem höchsten Punkt der heutigen Etappe. Unter uns lag grau und einsam ein Bergsee von Schneefeldern umringt. Anne musste gleich die Wasserqualität prüfen, doch mehr als die Füße traute sie sich nicht nass zu machen. Pawel war da robuster. Nur mit Badehose bekleidet, stürzte er sich mit Anlauf in die Fluten…
Nun folgte ein steiler Abstieg über loses Geröll bis hinunter ins Tal des Manaraga-Flusses (река Манарага). Uns steckten bereits 7 Stunden Wanderung in den Knochen, doch der Abstieg erforderte volle Konzentration. Ab und zu zeigten Steinmännchen den Verlauf des Weges an. Doch von einem richtigen Weg konnte keine Rede sein! Ich hätte oben am See mein Zelt aufgebaut und den Abstieg am nächsten Morgen frisch ausgeruht begonnen. Das Problem war, dass es oben kein Holz zum Feuer machen gab und soviel Gaskartuschen hatte Igor nicht dabei.
So kraxelten wir weiter bis der Steilhang hinter uns lag und ein Wanderpfad erschien, auf dem wir nun ins Tal stolperten. Immerhin hielt sich heute die Mückenplage in Grenzen. Ab und zu verfing sich eine in meinem Netz. Erwischte ich das Biest, schaute ich durch die Maschen des Netzes wie durch eine blutige Frontscheibe.
Endlich, nach über 9 Stunden erreichten wir unseren Biwakplatz. Alle waren müde. Alewtina und Tatjana verschwanden gleich im Zelt. Wären wir drei Stunden früher angekommen, hätte ich noch Holz gesammelt, so warteten wir auf den Abendessen-Ruf…

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Schon nach den ersten Metern müssen wir einen Bach queren.

Wir hatten gut geschlafen. Vielleicht wegen den Traumfängern, die in einer Weide hingen, die über unserem Kochfeuer wuchs. Da ist doch tatsächlich etwas aus Nordamerika nach Russland geschwappt. Auch Igor huldigte heute dem Schamanengott Odin. Auf seinem T-Shirt standen sich der Fenriswolf und Odins Raben Hugin und Munin gegenüber. Um den Hals baumelte Thors Hammer…
Gestärkt durch Kascha (Каша – Buchweizenbrei) mit Rosinen konnten es los gehen. Unser Ziel war das Biwak am Manaraga-Fluss (река Манарага) von wo aus wir am nächsten Tag den Manaraga besteigen wollten, vorausgesetzt es regnete nicht. Die Etappe sollte heute nicht so lang werden wie gestern. Allerdings mussten wir schon nach den ersten Metern einen Bach queren. Ich hatte wieder nasse Füße! Die sollten auch nicht wieder trocknen, denn heute war der Tag mit den häufigsten Bachquerungen und sumpfigen Wiesen. Aber erstmal erreichten wir einen kleinen Bergsee und da die Sonne lachte, war baden angesagt…
Das schöne Wetter lockte leider auch die Stechmücken wieder aus ihren Verstecken und noch schlimmer waren kleine schwarze Kriebelmücken. Schon nach kurzer Zeit hatte Anne ganz zerstochene Augenlieder, weil die Viecher unter die Brille flogen, wo Anne sie nicht schnell genug verscheuchen konnte.
Nach etwa 1 ½ Stunden von unserem Badesee aus gerechnet, erreichten wir den Hirschbach (ручья Олений). Es war mit Abstand der größte Bach, den wir heute queren mussten. Das Hirschtal hinauf verläuft eine interessante Wanderroute bis zur Basis „Желанная“. Das könnte mal ein Projekt in der Zukunft werden.
Wuchsen an unserem Biwakplatz am Oberlauf des Manaraga nur ein paar Weiden, so wanderten wir jetzt durch lichten Taigawald aus Lärchen, Birken und nordischen Fichten.
Der letzte Bach vor unserem Lager wurde Anne zu Verhängnis. Sie trat auf einen nassen Stein, rutschte aus und landete im Wasser. Pawel und ich hatten Mühe sie mit samt Rucksack wieder auf die Beine zu stellen. Zum Glück war nichts weiter passiert. Einen Schreck bekamen wir schon.
Knapp 6 Stunden waren wir heute unterwegs. Als unser Zelt stand, ging es zum Waschen an den Fluss und dann ans Lagerfeuer über dem ein Topf mit Makkaroni hing, um den sich schon alle versammelt hatten und Berufe rieten…
Womit Igor, Juri und Pawel ihr Geld verdienten wussten wir ja schon. Artjom schafft in einer Autowerkstatt, Alewtina arbeitet als Psychologin und ihre Freundin Tatjana in der Krankenhaus-Verwaltung, Sascha ist im Ruhestand, früher war er beim Militär, seine Frau Natascha arbeitet in einem Einkaufszentrum, Elena ist selbständig im Immobilienbereich und ihr Sohn möchte mal Ingenieur bei der Bahn werden. Um den Spaßfaktor zu erhöhen spendierte Lena aus einem Flachmann jedem einen Schluck Balsam (Бальзам) – einen Kräuterschnaps…

Sanft prasselten Regentropfen am Morgen auf unser Zelt. Wir konnten uns noch mal auf die andere Seite drehen. Mittags wurde das Prasseln stärker. Ob wir zum Manaraga gehen würden war nun fraglich. Doch am frühen Nachmittag hörte es auf zu regnen und Igor gab das Signal zum Aufbruch, es war jetzt 14:30 Uhr. Immerhin wurde es ja nicht dunkel.
Manaraga – der 1662 m hohe Berg ist nicht der höchste im Ural, zu diesem kommen wir noch. Manaraga bedeutet in der Komi-Sprache „Bärentatze“ und wenn man sich den zerklüfteten Gipfelgrat anschaute passte der Name recht gut. Wie Krallen eines Bären reihen sich mehrere Felszacken auf dem Gipfelgrat aneinander. Laut Tourenbeschreibung sollte nur der erste Felszacken bestiegen werden, da für den Hauptgipfel Kletterausrüstung nötig wäre.

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Der Manaraga zeigt sich zum ersten Mal in voller Pracht.

Leider hatte ich keinen leichten Tagesrucksack, so packte ich in meinem Trekkingrucksack nur etwas Wasser (mit der Dopingwurzel natürlich), die „Zuckertüte“ und den Poncho. Anne war sich sicher, dass wir wieder durchs Wasser mussten, so nahm ich auch noch ihre schweren Watstiefel mit, was sich im Nachhinein als überflüssig herausstellte. Jedenfalls hatte ich das Gefühl nach Igor mit dem schwersten Rucksack unterwegs zu sein, was mir etwas aufs Gemüt drückte.
Somit hatte ich schon mal keinen guten Start. Hinzukam, dass ich am liebsten hinten als Letzter mein eigenes Tempo halten wollte. Aber Sascha und seine Frau überholten mich nicht. Jedesmal warteten die Beiden bis ich weiter lief. Ich fühlte mich gehetzt, was meinen Gesamtzustand nicht wirklich verbesserte…
Der Pfad war gut ausgetreten, schien also oft begangen. Anne lief vor mir, als plötzlich von links Rufe herüberschallten. Lena und die anderen standen abseits des Weges an einem Hang und bedeuteten uns zu ihnen rüber zu kommen. Sascha schien etwas irritiert und meinte wir sollten auf dem Weg bleiben. Doch die anderen winkten uns zu, also folgten wir ihren Rufen.
In der Tat ging es nun weiter querfeldein einen Hang hinauf. Erst recht steil, dann flachte der Bergrücken etwas ab und es lief sich leichter. So ging es bis an den Fuß einer steilen Blockhalde. Wir machten Pause, Igor verteilte Wurst und Speck (Hoffnung), dann deponierten wir unsere Wanderstöcke an einen Felsen und kraxelten über lose Geröllbrocken bergauf.
Wir hatten die rechte Schulter des Berges erklommen, doch vor uns erhob sich nun die geröllige Ostflanke des Berges, teilweise mit Schnee bedeckt. Bis hierher hatten wir 2 ½ Stunden gebraucht, es war jetzt 17 Uhr und der schwierigste Abschnitt stand uns noch bevor. Außerdem sah es wieder nach Regen aus. Ich entschied mich umzukehren. Irgendwie hatte ich kein gutes Bauchgefühl und hatte gelernt bei solchen Situationen lieber auf meinen Bauch, als auf meinen Kopf zu hören…
Anne entschied sich ebenfalls für einen Rückzug. Die anderen schienen entschlossen zu sein die Tour fortzusetzen. Juri schenkte mir seine „Zuckertüte“, dann begannen wir den Abstieg. Sicherheitshalber hatte ich den Ablageort unserer Wanderstöcke auf dem GPS markiert. Es wäre aber nicht nötig gewesen, denn sie leuchteten uns schon von weitem entgegen.
Kaum stand ich bei den Stöcken, als über mir Stimmen ertönten. Den Stimmen folgten Köpfe, den Köpfen Personen. Tatsächlich stieg einer nach dem anderen unserer Gruppe die Blockhalde hinab.
„Ob die wegen uns den Rückzug angetreten sind?“ fragte ich mich. Anne war sich auch nicht sicher. Nun fühlte ich mich irgendwie schuldig, dass der Rest der Gruppe auf den Gipfelgrat verzichten musste. Doch Igor meinte, dass alles so geplant war. Wir hatten unsere Zweifel…
Wir nahmen unsere Stöcke in Besitz und liefen zurück in Richtung Biwaklager. Igor als Alleinunterhalter ein Lied nach dem anderen singend, der Rest stimmte mit ein. „Bergluft inspiriert das Hirn.“ so Lenas Kommentar…

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Das Wetter lädt nicht mehr zum baden ein.

An einer sibirischen Lärche in unserem Lager hingen lauter Schildchen mit den Heimatorten der Wanderer, die hier biwakiert hatten. Pawel bastelte auch ein Schild für unsere Wandertruppe. Leider war für Freiburg kein Platz mehr, so verewigte er nur Mannheim.
Wir mussten heute den gleichen Weg zurück den wir vorgestern gelaufen waren. Die Sonne schien und die Mückenplage hielt sich in Grenzen. Der Gipfelgrat des Manaraga steckte wieder in Wolken.
An den Bächen kam es immer zu Zwangspausen, da alle ihre Schuhe wechseln mussten. Ich hatte mich schon so an die nassen Füße gewöhnt. Gedanken machte ich mir nur, um meine Wanderschuhe. Ob sie diese Wanderung unbeschadet überstehen würden? Trocken hatte ich sie bis jetzt nicht bekommen. Juri zeigte uns einen Ampfer. Igor schnappte sich das Blatt und aß es auf. Sascha erkundigte sich nach unseren zukünftigen Reiseplänen. Vielleicht mal Kamtschatka? Auf seine Frage welche Souvenirs wir schon aus Russland hätten, gab’s nur eine Antwort – Wodka!
An dem Bergsee, wo Anne und Pawel noch vor zwei Tagen baden waren, blies jetzt ein kalter Wind. Wir setzten unsere Rucksäcke ab und warteten auf Igor, der war verschwunden.
Nach einer halben Stunde tauchte er endlich auf, den Rucksack mit Brennholz beladen. Wir würden also heute an einem Platz zelten wo es kein Brennholz gibt. So schnappte ich mir auch einen Knüppel. Aufpassen musste ich nur, dass der Stock während der Sumpfpassagen und Flussquerungen nicht nass wurde.
Der Platz wo wir vor zwei Tagen aufbrachen, war belegt. Immer wieder begegneten uns Wanderer. Wie es schien war der „Jugyd wa“ recht beliebt bei den Russen. Etwa 1 Stunde von diesem Platz entfernt, bauten wir schließlich unsere Zelte auf. Die Stimmung war etwas gedrückt. Nach dem Abendessen verkroch sich jeder in sein Zelt.

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„Завтракать!“ Frühstückszeit.

„Завтракать!“ Das hieß raus aus den Schlafsäcken. Das hieß aber auch, Brei mit Trockenfleisch bis zum Platzen! Dummerweise hatte meine Tasse ein Fassungsvermögen von 900 ml und das ist ganz schön viel. Mein „Спасибо“ nach 2 Kellen zeigte bei Igor keine Wirkung. „Nix verstehen!“ war seine Antwort und schon hatte ich die nächsten 2 Kellen oben drauf. Doch damit nicht genug. Wenn meine Tasse halb leer war rief Igor „бавка!“ (Nachschlag) und die nächste Kelle voll Brei landete in meiner Tasse. An Abnehmen war bei der Tour nicht zu denken!
In der Regel war ich noch mit Essen beschäftigt, als die anderen bereits ihren Morgenkaffee schlürften. Für mich blieb dann meist nichts mehr übrig. Na ja, es hatte ja noch genug Tee.
Wir starteten recht spät um 10:30 Uhr. Es sollte die kürzeste Etappe unserer Wanderung werden. Nach etwa 2 Stunden Anstieg erreichten wir einen Bergkessel mit mehreren Seen. Immer wieder führte der Weg über ausgedehnte Geröllfelder. Das Geröll aus kristallinen Schiefern und Quarzit war in den Bergen des Ural allgegenwärtig.
Bald erhob sich vor uns der Kar-Kar-Pass (перевал Кар-Кар). In dem See am Fuße des Passes konnten es sich Artjom und Pawel nicht nehmen noch mal ins Wasser zu hüpfen. „Falk, swim?“ fragte Igor als wir am See eintrafen. Ich lies da den Jüngeren den Vortritt…
Der Aufstieg zum Pass war recht steil. Auf halber Höhe machten wir noch mal Pause. Der weitere Aufstieg gestaltete sich sehr anspruchsvoll. Über ausgesetzte Geröllbrocken kraxelten Igor, Artjom und Pawel nach oben. Tatjana schaffte es nicht allein. Die anderen drei mussten sie förmlich hinaufziehen. Von unten hatte ich doch einen recht gut ausgetretenen Pfad gesehen. Da musste es doch noch eine einfachere Möglichkeit geben, sagte ich mir. Mit dem ganzen Gerödel auf dem Buckel weigerte ich mich da weiter zu gehen, drehte um und suchte eine Alternative. Der Rest der Gruppe folgte mir. Und tatsächlich, keine 20 Meter hinter dem Geröll führte der Wanderweg von unten kommend in den Pass. Das es in den Bergen in einer Gruppe sicherer war zu wandern schickte ich ins Reich der Legenden…
Von der Passhöhe auf etwas über 1200 m Höhe, bot sich uns nun ein phantastischer Ausblick auf die Landschaft. Unter uns leuchtete tiefblau der Bublik-See (озеро Бублик). Zwei Inseln erhoben sich aus dem Wasser. Der See war unser Tagesziel. Der Abstieg erforderte zwar noch einmal etwas Konzentration, da es auch hier fast nur über loses Geröll ging, aber bis zum nördlichen Seeufer war es nicht mehr weit.
Was es hier oben nicht gab, war Brennholz. Und äußerst problematisch gestaltete sich der Gang zum Klo, in der Nähe gab es keine Möglichkeit unbeobachtet seinen „Geschäften“ nachzugehen! Trotzdem, der Platz war schön. Hier zeigte sich der alpine Teil des Urals in voller Pracht. Schneefelder, steile Felsflanken und schroffe Gipfelgrate. Und ganz wichtig, so gut wie keine beißenden oder stechenden Insekten…

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Unter uns leuchtet tiefblau der Bublik-See (озеро Бублик).

Der Höhepunkt unserer Wanderung stand am nächsten Tag auf dem Programm – die Besteigung der Narodnaja (Народная), mit 1895 m höchster Berg des Urals. Irgendwie hatten Anne und ich jedoch keine Lust auf eine Gipfeltour. Anne wollte ihr Bein schonen, dass sie sich im März gebrochen hatte und ich wollte keine Abkürzungen über Geröllfelder mehr unternehmen. So entschieden wir uns einen Ruhetag einzulegen. Die Sonne schien, es gab kaum Mücken, was wollten wir mehr…
Der Weg zur Narodnaja schien recht begangen zu sein. Er war auf meinem GPS verzeichnet und bereits gestern kam eine Gruppe Wanderer von da zurück. Lang hatten wir den See nicht für uns allein. Gegen Mittag erreichte eine recht große Gruppe den See. Als sie ihre Zelte aufgebaut hatten schwärmten die meisten in die Umgebung aus, um Müll einzusammeln. Das nannte ich mal aktiven Umweltschutz!
Artjom kam als erster von der Gipfeltour zurück. Eigentlich war er immer der Erste. Wir tauften ihn auf den Namen „Железный человек“…
Alle hatten es geschafft und auch ihren Spaß gehabt. Pawel zeigte uns auf seinem Smartphone ein Video – rutschende Leute auf einem Schneefeld.

Der letzte Wandertag war der längste der ganzen Tour. Wir mussten rund 17 km zurück zu unserem Startpunkt, der Basis „Желанная“ laufen. Von dort würde uns am nächsten Tag der Lkw abholen.
Sanft ging es bergab, dem Tal des Balbanju-Flusses folgend, welcher seinen Ursprung im Bublik-See hat. Linker Hand tauchten eine Reihe kleinerer Bergseen auf, die vom Balban-Gletscher (Ледник Балбан) gespeist wurden. Auch hier erkannte man wieder deutlich den Hochgebirgscharakter des Subpolarurals. Bald erreichten wir den Waldik-See (озеро Валдик) wo sich der Kreis schloss. Hier standen wir vor 5 Tagen schon einmal. Wir querten wieder den Balbanju-Fluss und folgten ihm weiter talwärts. Kurz vor der Stelle, wo wir am ersten Wandertag gezeltet hatten, hatte der Fluss einen tiefen Gumpen ausgespült. „Falk, swim?“ fragte Igor wieder. Artjom und Pawel planschten bereits im Wasser. „Посмотрим“ („Mal sehen“) erwiderte ich. Diesmal werde ich nicht kneifen. Also Klamotten runter und rein in die Fluten. Es war saukalt. Das konnte auch Anne nicht auf sich sitzen lassen und bald schwamm auch sie im Fluss.

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Schwimmen im Balbanju-Fluss.

So erfrischt lief es sich gleich besser. Bald erreichten wir das Lager der Rentierhirten (Стойбище Оленеводов). „Tal der Ahnen“ („Долина Предков“) nennen die Hirten den Ort.
Zwei Frauen erschienen hinter den mit Tüchern abgedeckten Schlitten, die vor dem Lager standen. Alewtina ging zu ihnen und die Frauen zogen die Tücher von den Schlitten. Zum Vorschein kamen Rentierfelle, Fellschuhe und Trockenfische. 500 Rubel kostete ein Fell. Wie auf dem Zentralmarkt, dachte ich mir. Alewtina und Pawel kauften ein Rentierfell, Sascha ein paar Trockenfische. Dann setzten wir zum Endspurt auf das Biwaklager an.
Schon von weitem zeigte sich der kleine Unterstand am Biwak. Doch zuvor musste noch der Balbanju durchquert werden. Wasserwandern im wahrsten Sinne des Wortes. Wir latschten einfach in den Fluss und folgten der Strömung. Anne zog sich nicht mal mehr ihre Watstiefel an…
Das Biwak entpuppte sich als reinstes Schnakenloch. Die Biester stürzten sich sofort auf mich. Nicht mal das Spray erzielte eine Wirkung. Also nichts wie an die Arbeit und das Zelt aufgebaut!
Nach dem Abendessen hörten wir Motorengeräusch, unser Lkw rollte an und mit ihm die neue Wandergruppe. Mit den Neuen, kam auch etwas Abwechslung in unsren Speiseplan. Es gab zum Nachtisch Honigmelone und Wodka!
Vom Letzteren hatte der Guide der neuen Gruppe bereits ausgiebig Gebrauch gemacht. Er war nicht mal mehr in der Lage das Abendessen für seine Leute zu kochen, so dass Igor einspringen musste…

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Das Biwak entpuppt sich als reinstes Schnakenloch.

Die Wanderung war vorbei, was sich auch am Frühstück bemerkbar machte – Püree und Salami. Immerhin mochte jetzt jeder Annes löslichen Kaffee! Nach den obligatorischen Abschiedsfotos stiegen wir in den Lkw, die neue Gruppe nahm gerade ihre Verpflegungspakete in Empfang.
Diesmal genossen wir das Rütteln und Schütteln mit musikalischer Untermalung. Ein Radio im Lkw machte es möglich. Leider setzte die Musik bei jedem Schlagloch aus, um anschließend von vorn zu beginnen…
Am Fluss Кожым (Kozhym) fing es an zu regnen – es war meine letzte Flussquerung und die ohne nasse Füße zu bekommen! Als wir kurz vor Oberinta die Rumpelpiste verließen hielt der Lkw. „Wir brauchen noch Birkenzweige.“ erklärte Lena. Sie wollten in Inta die Tour in einer klassischen Banja (Sauna) abschließen. Gute Idee, da sind wir dabei!
Am Bahnhof verabschiedeten wir Alewtina und Tatjana. Dann fuhren wir nach Inta. Unser Gepäck deponierten wir in Igors Wohnung. Jetzt konnte es zur Banja gehen. Nur wo waren Lena, ihr Sohn und Juri? Ich dachte wir würden jetzt gemeinsam in die Sauna fahren. Artjom und Pawel wollten Bier in einem Laden kaufen. Keiner wusste so recht, wie es nun weiter geht. Irgendwie wirkte alles etwas chaotisch. Meine Saunalust hatte sich in Luft aufgelöst. Das Vernünftigste schien mir in unser Hotel zu gehen. Wir hatten ja gebucht. Wir gingen zurück zu Igors Wohnung. Die Haustür war natürlich verschlossen. Anne klingelte irgendwo und erklärte der Stimme an der Sprechanlage, dass wir zu Igor wollen. Die Tür öffnete sich! Wir holten unser Gepäck und fragten uns zum Hotel durch, wo wir bereits erwartet wurden.
Mich erwartete jetzt erst einmal die Badewanne und anschließend der Laden um die Ecke. Wo es tschechisches Ziegenbier (Kozel Černý) und Rotwein von der Halbinsel Taman gab.

Strafe muss sein!

Unser Zug zurück nach Moskau fuhr erst um 22:01 Uhr. Wir mussten uns um ein Taxi kümmern (Wir konnten Ali anrufen.) und brauchten einen Platz, wo wir bis dahin unsere Rucksäcke lagern konnten. Am geschicktesten wäre es einfach im Hotel zu warten. Ich fragte also in der Rezeption. Kein Problem, so die Dame. Es würde lediglich nochmal 1450 Rubel (etwa 15 Euro) kosten – einverstanden! Auch um das Taxi kümmerte sich die Dame. Um 21 Uhr würde uns ein Suzuki abholen. Der Fahrer heißt Grischa (Гриша).
Als zusätzlichen Service führte uns die Frau zu dem Delikatessenladen wo es Rentierwurst zu kaufen gab. Wir waren anfangs etwas irritiert, denn auf jeder Wurst stand „олень“ und das heißt „Hirsch“. Hirschwurst wollten wir aber nicht. Es dauerte ein Weilchen bis uns klar wurde, dass Rentier „Северный олень“ heißt und das bedeutet „Nördlicher Hirsch“…
Zu empfehlen sind: Колбаса салами „Россйская“ из оленны сырокопчёная 168,20 RUB (roh geräucherte Hirschsalami, 1,77 EUR), Колбаса „Помосковски из оленны“ варёно-копчёная 208,78 RUB (geräucherte Hirschkochwurst, 2,19 EUR), Оленна шпигованная чеснокои и зеленьи варёно-копчёная, 343,20 RUB (gekochter Hirschrollbraten mit Knoblauch und Kräutern, 3,61 EUR).
Leider konnten wir nirgends ein Moskitonetz finden. Na ja, dass die Teile hier begehrt sind war auch kein Wunder…
Es war Zeit fürs Mittagessen. Durch Zufall entdeckten wir das Café wo wir damals mit Igor waren. „Кафе Островок“ (Inselcafé) stand draußen geschrieben. Ich bestellte Forelle, bekam stattdessen Lachs und als Entschädigung ein Bier auf Kosten des Hauses…
Als wir bezahlten und gehen wollten kam Juri grad zur Tür rein. Er hatte im Bahnhof übernachtet. Wir dachten er wäre schon längst daheim. Wir sollten noch weitere Gruppenmitglieder antreffen.
Inta besitzt ein Heimatmuseum und da wir eh nichts weiter vor hatten, fragten wir uns zu diesem durch. Kaum eingetreten, wer kam uns entgegen? Alewtina, Tatjana und Artjom. Sie hatten im Bahnhof übernachtet.
Unsere letzte Aktion bestand darin Essen für die Zugfahrt zu kaufen. Dann hieß es warten im Hotel. Kurz vor 21 Uhr gingen wir nach unten. Der Taxifahrer war nicht Grischa sondern eine Frau!
Sicher die Schlaglöcher meidend, erreichten wir den Bahnhof. Das Gebäude war fast leer. Der Zug kam pünktlich und als wir den Bahnsteig betraten, tauchten wie aus dem Nichts Alewtina, Tatjana und Juri auf, um sich von uns zu verabschieden.
Die Mücken begannen schon wieder ihre Boshaftigkeit an uns auszulassen, doch so schnell ließ uns die Waggonschaffnerin nicht einsteigen. Ein Wanderkumpel erzählte mir früher mal, dass diese Damen mitunter „Drachen“ sein konnten. Man sollte sich mit ihnen gut stellen…
Nun ja, die Frau verglich meinen Pass und das Visum mit ihren elektronischen Daten. Irgendetwas störte sie. Bei ihr tauchte kein Vatername auf. Wir versuchten ihr klar zu machen, dass in Deutschland ein Vatername eher unüblich ist. Erst als sie die Meinung ihrer Kollegin einholte, gab sie sich zufrieden. Sie prüfte die Daten von Anne, dort tauchte ein Vatername auf! Das schien ihr seltsam. „Это правильно“ (das ist richtig), sagte sie und gab mir meinen Pass zurück. Annes behielt sie, denn dort stand ein Vatername, obwohl dort ja keiner stehen durfte! Das war also nicht richtig! Nun, Anne hatte ja einen zweiten Vornamen und den hatte sie in das Feld eingetragen, das für den Vaternamen vorgesehen war – ein folgenschwerer Fehler!
So ein Fehler musste geahndet werden und die Strafe für ein falsch ausgefülltes Formular betrug 200 Rubel. Jetzt hatte sie sich durchgesetzt und wir durften unsere Plätze aufsuchen…
Der Zug setzte sich in Bewegung, wir winkten Juri zum Abschied zu, der standhaft den Mückenattacken Paroli bot, dann kraxelten wir ins Obergeschoss…
Wir hatten diesmal kein 4er-Abteil sondern lagen in einem Großraumwagen. Auf beiden Waggonseiten gab es Liegen, dazwischen einen schmalen Gang. Bettlaken, Bezüge und Decken lagen bereits auf unserer Pritsche. Alles war eng, das Bett machen war eine Herausforderung. Ich fragte mich, ob das Waggonwerk ТВЗ (Тверской вагоностроительный завод) auch U-Boote baut. Vom Platzangebot dürfte es da ähnlich aussehen…
Von Vorteil war, dass wir auf der Rückfahrt zwei Nächte im Zug verbrachten. So suchten wir am nächsten Morgen den Speisewagen auf, um uns hinzuhocken, einen Kaffee zu trinken und zu frühstücken. Danach schauten wir uns in den Waggons um, ob nicht irgendwo noch leere Plätze waren. In dem Waggon wo die Kollegin unserer Schaffnerin tätig war, die ihr gestern zu Hilfe kam, gab es tatsächlich noch zwei freie Plätze. Wir durften uns setzen.
Auch die längste Fahrt geht einmal zu Ende, pünktlich erreichten wir am anderen Morgen die russische Hauptstadt Moskau.

In Inta hatten wir unsere Unterkunft in Moskau gebucht – das Marriott Grand Hotel auf der Twerskaja Straße. Um dorthin zu gelangen, mussten wir mit der Metro Linie 5 wieder bis zur Station „Belorusskaja“ fahren und dann noch eine Station zur „Majakowskaja“ mit der Linie 2.
Bereits am Eingang zur Metro standen mehrere Automaten. Wir versuchten unser Glück. Die Sprache zur Dateneingabe konnte man in Englisch ändern. Eine Station „Majakowskaja“ tauchte jedoch nirgends auf. Dafür gab es eine Station „Puschkino“. Okay, „Puschkinskaja“ war nur zwei Stationen weiter, wenn ich mich nicht irrte. Wird schon passen. Wir zahlten und der Fahrschein wurde ausgespuckt. Seltsam war an der Sache, dass wir mit dem Barcode nicht durch die Absperrungen zur U-Bahn kamen…
Dafür gab es hier Kassenhäuschen. Wir zeigten der Dame unseren Fahrschein. „Sie wollen zum Bahnhof Puschkino?“ Ähm, wir hatten ein Zugticket gekauft… Das nannte sich wohl „Lehrgeld zahlen“. Nachdem wir zwei Einzelfahrten erstanden hatten, gab’s keine weiteren Probleme mehr.
Von der Metrostation war es nicht weit bis zum Hotel. Wir bekamen ein Zimmer in der 6. Etage mit Hinterhofatmosphäre und Badewanne…

Moskau

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Wieder auf dem Roten Platz mit Basilius-Kathedrale und Erlöserturm.

Was macht man 6 Tage in Moskau? Nun, unser erstes Ziel war selbstverständlich der Rote Platz (Красная площадь) mit dem Kreml (Московский Кремль). Erst einmal ging es ans Frühstücksbuffet. Es gab Sekt, wenn schon dekadent dann richtig dekadent…
Am Grab des unbekannten Soldaten fand gerade die Wachablösung statt. So sahen wir erstmal nur klickende Kameras. Dann korrigierte einer der Soldaten den Mützensitz des Wachpostens. Anne überlegte, ob das nun eine Ehre oder eine Strafe sei, hier stundenlang wie angewurzelt zu stehen.
Der Rote Platz selbst war abgesperrt. Es fand eine Zeremonie statt. Ich tippte auf Vereidigung von jungen Soldatinnen. Ja das waren tatsächlich junge Frauen in Uniform…
Die Eintrittskarten für den Kreml gibt es am Ticket-Schalter im Alexandergarten (Алекса́ндровский сад). Man kann sich in die Schlange von Besuchern einreihen oder an den Automaten gehen. Wir bevorzugten letzteres. Das Ticket kostete 700 Rubel pro Person und berechtigte zu einem Besuch des Kremls und seiner Kathedralen.
Da wir in Russland schon Ehrenrunden gewöhnt waren, drehten wir auch eine um den Kreml, da wir den richtigen Eingang nicht auf Anhieb fanden. Durch das Tor des Dreifaltigkeitsturms (Троицкая Башня) gelangten wir schließlich ins Kremlinnere. Nicht ohne zuvor wieder die Hosen runter zu lassen…
Nach dem Besuch von mehreren Kathedralen mit Ikonen und orthodoxen Heiligen reichte es. Wir schlenderten noch ein wenig durch die Parkanlagen und machten uns auf den Rückweg.
Gegenüber der Zarenkanone befindet sich das Senatsgebäude, also der Arbeitsplatz des russischen Präsidenten. Vor uns liefen ein paar Besucher quer über den Platz, wir latschten hinterher als plötzlich ein lautes Trillern ertönte und uns in die Realität zurückbeförderte. Wir waren auf verbotenen Wegen unterwegs und mussten schleunigst wieder auf den Gehsteig.
Quer über den Roten Platz, vorbei an der Basilius-Kathedrale (Храм Василия Блаженного) stand noch das Kaufhaus GUM (Главный универсальный магазин) auf dem Programm. Das Lenin-Mausoleum war geschlossen.
Auf der Nikolskaja-Straße (Никольская улица) mit ihren Begonienarkaden ging es zurück in Richtung Hotel. An der Twerskaja 18 erregte ein Schriftzug unsere Aufmerksamkeit: „Грабли – Вкусно как дома!“ Lecker wie daheim – das wollten wir wissen! Das Selbstbedienungsrestaurant bot russische Küche zum kleinen Preis, also genau das Richtige für uns! Es wurde unser Stammlokal in Moskau.
Da wir schonmal in der Twerskaja-Straße residierten, war ein Besuch der Patriarchenteiche (Патриаршие пруды) für mich Pflicht. Eigentlich ist es nur ein Teich und an diesem lies der Schriftsteller Michail Bulgakow in seinem Werk „Der Meister und Margarita“ die drei Hauptfiguren Professor Woland (der Teufel persönlich) sowie seine Gehilfen Korowjew und Kater Behemoth Literaturgeschichte machen. Leider fanden wir kein Schild mit den Silhouetten der Drei und der Unterschrift „Запрещено разговаривать с незнакомцами“ („Es ist verboten, mit Fremden zu sprechen“).
Dafür war die Malaja-Bronnaja-Straße (Малая Бронная улица) ein Erlebnis. Eine Straßenbahn fährt dort nicht mehr! Das Polizeiaufgebot war deutlich höher als auf den Straßen auf denen wir zuvor gewandelt waren. Zahlreiche Bars und Kneipen prägten das Straßenbild. Mädchen mit Hotpants und kniehohen Stiefeln flanierten auf dem Gehsteig und eine der Damen hielt ein Schild mit der Aufschrift „Ищу Муж“ (Suche Mann) in die Höhe…
In der Cocktailbar „Masters & Margaritas“ ließen wir den Tag ausklingen.

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Mit Lena auf der „Schwebenden Brücke“ (Парящий мост).

Heute waren wir mit Lena und ihrem Ehemann verabredet. Sie wohnen ja bei Moskau. Mittags schlenderten wir zusammen hinunter ans Ufer der Moskwa, um eine Bootsfahrt zu buchen. Wann wir mit welchem Boot fahren würden erschloss sich mir nicht, aber wir hatten ja Profis dabei, die sich auskannten. Den Plan am Gorki-Park auszusteigen verwarfen wir wieder da es anfing zu regnen. So fuhren wir zurück und stiegen aus an der Nowospasskij-Brücke (Новоспасский мост).
Wir wurden in eines ihrer bevorzugten Restaurants eingeladen. Das Restaurant „Samarkand“ hatte tadschikische Küche.
Mein Versuch das Restaurant in meinem GPS zu markieren schlug gründlich fehl! Es gab nirgends ein stabiles Signal. Kaum hatte ich für eine Sekunde Empfang, schon war im nächsten Augenblick wieder Funkstille. (Ich glaube, daran hatte wirklich Putin Schuld…)

Auch am Morgen regnete es. Was macht man bei Regen? Wir wollten uns der Kunst widmen. Kunst konnte man in Moskau genug haben, wir wollten gleich mal in die Vollen greifen und der staatlichen Tretjakow-Galerie einen Besuch abstatten. Doch erstmal kümmerten wir uns ums leibliche Wohl am Frühstücksbuffet…
Von den ausländischen Hotelgästen überwogen jene asiatischer Herkunft deutlich. Deutsche anzutreffen konnten wir uns kaum vorstellen.
„Wo kommt ihr her?“ Der Fragende am Nachbartisch war Bauunternehmer und lebt in Lübeck. Mit seiner Frau oder Freundin war er von Deutschland mit dem Auto nach Russland gefahren.
„Hier kannste zu schnell fahren, zahlst 50 Euro Strafe und gut. In Deutschland zahlst nichts, musst aber ’ne halbe Stunde Diskutieren. Eine halbe Stunde!!“ Die Frau oder Freundin verabschiedete sich, da sie einen Frisörtermin hatte. „Und was hier rumfährt! So viele Maybachs hab ich noch nirgends gesehen!“ Dann gab’s einen Vortrag wie tief doch das Bauhandwerk in Deutschland gesunken sei.
Bestens aufgeklärt, konnten wir uns trotz fortgeschrittener Zeit, nun der Kunst widmen. Mit der U-Bahn ging es mit der Linie 2 bis zur Station Nowokuznetskaja (Новокузнецкая). Von hier waren es bis zur Tretjakowka (Третьяковка) nur wenige Minuten. Es regnete immer noch. Die Menschenschlange am Eingang hielt sich in Grenzen. Der Eintritt kostete 500 Rubel pro Person. Taschen mussten an der Garderobe abgegeben werden.
Etwa 180 Tausend Gemälde besitzt die Galerie, ausgestellt sind aber nur ein Teil, Werke der traditionellen russischen Kunst. Anne interessierte sich mehr für die moderne Kunst, die gab es hier jedoch nicht. Mir gefielen die foto-realistischen Bilder eh besser. Mit schwarzen Flächen und Farbklecksen konnte ich nicht viel anfangen… So beschloss Anne noch in das Museum für moderne Kunst zu gehen.
Die Tage in Moskau gingen zu Ende. Das Wetter besserte sich nicht, auch an unserem Abflugtag regnete es. Erst in Kaliningrad hatten wir wieder Sonnenschein. Der Flughafenbus hielt diesmal an der Haltestelle „Hotel Kaliningrad“, so brauchten wir nicht bis zum Südbahnhof zu fahren. Das Zimmer im Hotel Kopernik hatte ich ja bereits bei unserem ersten Aufenthalt reserviert. Lediglich im Steindamm einen Tisch zu bekommen erwies sich als schwierig. Der Laden war komplett ausgebucht! Wir durften uns an den Gehsteig hocken, bekamen Bier und Aperol und wenn ein Tisch frei wurde, würde uns der Kellner Bescheid geben…
Wir hatten Glück und mussten nicht lang warten. Passend zu unserem Aufenthalt ließen wir mit traditionellen „Königsberger Klopsen“ unseren Urlaub in Russland ausklingen. Morgen ging es zurück nach Danzig.

Mit Bus und Bahn, wann kommen wir an?

An der Rezeption war niemand am nächsten Morgen. So mussten wir unsere Rucksäcke mit in die Stadt nehmen. Beim „Königsbäcker“ gab’s ein Paar Quarkpfannkuchen (Сырники) zum Frühstück und im Viktoria-(Виктория)-Einkaufszentrum gab’s den Reiseproviant. Im „Lecker – und Punkt“ („Вкусно – и точка“), ehemals McDonald’s warteten wir auf die Abfahrt.
Der Bus kam pünktlich, davor drängelten sich die Leute mit ihren Reisepässen in der Hand. Etwa ein halbes Dutzend hatte einen blauen Pass mit dem goldenen Dreizack – Ukrainer. Der Tag dürfte lang werden, dachte ich mir. Der polnische Busfahrer stimmte die Leute schon mal auf lange Wartezeiten ein…
So kam es dann auch. Die Gepäck- und Passkontrolle dauerte nicht übermäßig lang. Unsere Visa dreimal kontrolliert! Die Ukrainer anschließend wieder gesondert verhört. An der polnischen Grenze mussten sie sich fotografieren lassen. Die Grenzer ließen sich Zeit. Noch nie hatte jemand meinen Pass mit einer Lupe Millimeter für Millimeter gescannt, hier passierte genau das! Insgesamt dauerte die Kontrolle wieder über 4 Stunden! Immerhin durften alle weiterfahren. Gegen 21:20 Uhr erreichten wir schließlich Danzig.
Unser Zug fuhr recht früh am morgen um 5:15 Uhr. Wir mussten somit früh aufstehen. Mein Smartphone-Wecker dudelte um 4 Uhr.
In Szczecin (Stettin) kamen wir pünktlich an. Der Anschlusszug nach Deutschland hatte 15 Minuten Verspätung! Dass wir in Pasewalk den Zug nach Berlin noch bekamen war nur möglich, weil dieser noch mehr Verspätung hatte…
In Berlin dann die nächste Überraschung, nicht so sehr für uns, mehr für die anderen Fahrgäste. Der ICE nach Frankfurt am Main war ein Ersatzzug und somit fehlten Waggons und damit reservierte Sitzplätze. Das hatte ein vor- und zurückrennen der Fahrgäste zur Folge, die nun ihre reservierten Sitzplätze suchten und nicht fanden…
Um das deutsche Bahnchaos perfekt zu machen, gab es zwischen Fulda und Kassel eine Oberleitungsstörung und eine Streckensperrung nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof. Somit endete die Fahrt unseres ICE bis auf weiteres in Fulda…
Die Einfahrt des ICE 375 nach Basel, den wir in Frankfurt hätten nehmen müssen, wurde gerade angekündigt. Aus dem Bahnhofslautsprecher erscholl: ICE 375 nach Basel, Abfahrt um 17:58 Uhr auf Gleis 4. Auf Gleis 4 stand aber schon ein ICE! Laut Anzeige auf dem Bahnsteig der ICE 1079 über Heidelberg nach Basel, Abfahrt 18:03 Uhr.
Ei der Daus, wie kann das sein? Wie kann der ICE 375 vom Gleis 4, 5 Minuten früher abfahren, wenn der ICE 1079 bereits auf Gleis 4 steht und erst um 18:03 Uhr fährt? Das konnten uns auch die Schaffner nicht erklären…
Und was, wenn der nachfolgende ICE plötzlich 50 Minuten Verspätung hat? So stiegen wir in den wartenden Zug ein, der über Heidelberg fuhr. Dieser fuhr dann auch annähernd pünktlich los. Zumindest bis Frankfurt Süd, dort stand er eine halbe Stunde, da er auf den Lokführer warten musste…
Dass ich nur mit einer Stunde Verspätung Freiburg erreichte, war schon ein kleines Wunder…

Nun ja, was soll ich sagen? Trotz der Schwierigkeiten mit denen wir konfrontiert wurden, hatte unterm Strich alles (gut) geklappt. Ich hoffe (und werde viel Speck essen), dass auch in Zukunft solche Reisen möglich bleiben und sich der Eiserne Vorhang nicht noch weiter senkt…

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2 Gedanken zu „Europa am Ende (Subpolarural Juli 2023 – Russland)

  1. Sehnsüchtig erwartet und als er endlich lesbar war, nahezu am Stück verschlungen; vielen Dank für die Teilhabe an einer Tour durch eine sehr „exotische“ Ecke Europas!
    Beim Nachverfolgen von An- und Abreise war ja höchste Konzentration gefragt. Ich bin ehrlich, die Stechviecher wären für mich wohl ein Ausschlusskriterium, um so schöner, zumindest virtuell mal dorthin gereist zu sein.
    Und Gott schütze die Dame aus dem Schlafwagen…

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