Im Herbst wollte ich mit Anne noch einmal in den Karpaten wandern. Das Problem: Ich hatte nur noch 4 Tage Urlaub. Wir brauchten einen Feiertag! Damit waren die Würfel gefallen, es ging nur über den 1. November. So spät im Jahr gab es nicht allzu viele Regionen in den Karpaten, die gut erreichbar waren und eine schöne Herbstwanderung gestatteten. Wenn möglich, durch bunte Wälder aber ohne Schnee. Die Weißen Karpaten in Tschechien vielleicht? Oder die Kleinen Karpaten in der Westslowakei? Nein, mir kam eine bessere Idee!
Drei Berge zieren das Wappen der Slowakei – sie stehen für drei Karpatenmassive: Tatra, Fatra und Mátra. Die beiden ersteren kannte ich bereits, das dritte aber lag nicht mehr in der Slowakei sondern im Nachbarland Ungarn und ziert auch dort das Staatswappen. Warum eigentlich nicht? Alle guten Dinge sind drei, also stand unser Wanderziel fest: Wir würden die höchsten Gipfel Ungarns erklimmen, immerhin über 1000 m hoch und das ist was für’s Land der Puszta.
Nach Ungarn
Der ICE nach Zürich hat 5 Minuten Verspätung. Das macht nichts. Meine Gossamer-Tüte auf dem Rücken drückt nicht. Ich habe auf Leicht gesetzt. Leichte Tour, leichte Ausrüstung. Ungarn, Mátra, Eger, soweit der Plan. Gemütliches Wandern durch Herbstwald und am Schluss im „Tal der schönen Frau“ genießen, mit „Erlauer Stierblut“, so wie 1988. Der Wetterbericht sagte Sonnenschein voraus. Zumindest für die ersten drei Wandertage. Matte, Schlafsack und Zelt sind nur ’ne Art Rückfallebene. Die Flasche Rotwein zur Einstimmung auf den Urlaub. Sicher ist sicher!
Anne hat ihren Spirituskocher im Rucksack für den Morgenkaffee – sicher ist sicher. Sie springt kurz aus dem Waggon als der Zug hält. Wir steigen ein und ich krame mein Avocado-Brot raus – Resteverwertung = Reiseproviant.
In Zürich ist es kalt und windig – 1 ½ Stunden warten. Schnupfen plagt uns beide. Eine Tüte Chips 5 Euro! Nicht mein Reiseland! Um 21 Uhr klappen die Eidgenossen die Bürgersteigli hoch, wie es scheint. Erst schließt das Reisezentrum, der einzige Ort wo es warm ist, dann das Souvenir-Lädeli. Zum Glück wird unser Zug bald bereitgestellt. Endlich im Warmen, Zeit für den Wein.
Der Schlafwagenschaffner belehrt uns: „Die Tür bitte verriegeln, einmal hier, einmal dort.“ Der muss das sagen. Zum Frühstück bestellen wir Kaffee, muss auch sein.
Budapest. Wir sind pünktlich! Durch die Wolkendecke schimmert zaghaft Himmelsblau. Ich glaube an den Wetterbericht. Auch hier haben wir 1 ½ Stunden Zeit. Der aktuelle Wechselkurs über den Wechselstuben leuchtet neongrün – 1 EUR = 242 HUF. Wir lassen uns nicht verführen und schauen uns erst mal vor dem Bahnhof um. Auch dort leuchtet der Kurs neongrün – 1 EUR = 300 HUF. Wir tauschen. In einem Café bei einem Kaffee warten wir bis es weitergeht.
Der IC nach Eger ist voll. Unser Sitznachbar, ein rotnasiges Palinkagesicht, holt seine 0,5-Liter-PET-Flasche raus, es ist nicht mehr viel drin. Ich esse mein letztes Avocado-Brot. Anne hat Kekse und Ingwertee. In Hatvan müssen wir raus. 12:13 Uhr geht es weiter. 12:13 Uhr fahren zwei Züge, einer von Gleis 1 der andere von Gleis 6. Der eine nach Szolnok, der andere nach Somoskőújfalu. Welcher fährt nun über Szurdokpüspöki? „Platform 6“ sagt die Dame am Fahrkartenschalter. Der kleine Triebwagen wartet bereits am Bahnsteig. Ich halte unseren Fahrschein mit dem Zielbahnhof einem Opa unter die Nase, sicher ist sicher. Er nickt, wir sind beruhigt.
Noch ist Ungarn so wie ich es kenne – flach. Doch bald erheben sich Hügel am Horizont und über den Hügeln dunkelgraue Regenwolken. Die Hügel wachsen und leuchten gelb in der Mittagssonne. Auf der Hügelspitze erhebt sich ein Aussichtsturm. Die Wolken bleiben dunkel. Szurdokpüspöki. Wir sind wieder pünktlich!
Hier gibt es ein Gasthaus, Fenyves Fogadó – so behauptet es Google jedenfalls. Wir folgen der Dorfstraße in Richtung Dorf. An den Strommasten leuchtet die erste Wanderwegmarkierung – rotes Band. Im Ort biegen wir nach rechts und am Ortsrand stellen wir fest, Google hat Recht! Nyílta – wir gehen rein. An der Wand hängen Zeichnungen, Porträts der ersten Magyaren aus der asiatischen Steppe, zu Pferd mit Pfeil und Bogen, wilde Gesichter den Tataren nicht unähnlich. Am Nachbartisch sitzt man in waidmannsgrün, Österreichern nicht unähnlich – Ungarns Geschichte kompakt sozusagen. Die Speisekarte ist dreisprachig – ungarisch, englisch und deutsch. Anne nimmt Gänsekeule. „Wildschweingulasch“ steht da – ausgezeichnet!
Der Kellner: „Sorry“ – schade! Dann eben auch Gänsekeule. Zum Nachtisch Käsekuchen mit Blaubeeren und Sahne – lecker. Die grauen Wolken haben sich verzogen, hell strahlt die Nachmittagssonne durch die Fenster des Gastraumes. „Wir laufen noch ein Stück“ schlägt Anne vor. „Bei dem Wetter.“ Ich stimme zu. Somit ist klar, wir werden heute biwakieren. Wo, müssen wir noch herausfinden. Um dem geplanten Weg zu folgen, müssten wir zurück ins Dorf. Zurück mag ich aber nicht. Nicht weit vom Gasthaus zweigte der Wanderweg ab, in Richtung des Turm-Berges, den wir vom Zug aus gesehen hatten. Als Auftakt nicht schlecht. Nagy-hársas, 509 m sagt die Karte.
Auf 509 m steil nach oben der Falllinie folgend, sagt die Karte nicht. Anne hat noch 3 Liter Wasser aus dem Gasthaus im Rucksack. Bei mir ist es nur ein Schluck warmer Tee, von der Bahnfahrt übrig. Sie stöhnt, will mir das Wasser aber nicht geben. „Ich rette gerade dein Leben“ so ihr Kommentar, auf mein Angebot. Immerhin entschädigt der goldene Herbstwald die Plackerei. Am Boden liegen Esskastanien. Esskastanien? Nein es sind Eicheln mit borstigen Kappen. Bald wird es flacher und der Weg führt auf dem Kamm zum Gipfel – tető.
Eisenleitern führen über mehrere Etagen zur Aussichtsplattform. Auf jeder Etage liegt Schrott und Gerümpel. Oben werden wir mit einer herrlichen Fernsicht belohnt. Unter uns Wogen goldgelben Buchen- und Eichenwaldes. Das Dorf dahinter. Im Osten reckt sich Ungarns höchster Berg in den Abendhimmel – der Kékestető, 1014 m. Der Wind ist kalt und treibt uns bald wieder hinunter. Die Sonne senkt sich zum Horizont, hier wird es zeitiger dunkel als daheim. Wir müssen einen Biwakplatz finden.
Der Wanderweg führt nun sanfter hinab als vorher hinauf. Ein Reh verschwindet im Gebüsch. Bald erreichen wir eine Wegkreuzung, unsere neuen Markierungen sind ein rotes Kreuz und blaue Plastikbänder mit der Aufschrift: „Decathlon“. Es macht Spaß mit den Füßen durchs Laub zu rascheln – Herbst halt. Die Sonne hat sich bereits verabschiedet. Ein geeigneter Biwakplatz kommt nicht in Sicht. Auf meiner GPS-Karte erscheint eine Wiese nicht weit weg. Wir folgen einem Waldweg in besagte Richtung. Eine Wiese finden wir nicht aber eine schöne flache Stelle auf dem Waldboden. Der Zeltaufbau ist etwas fummelig aber schließlich steht das Ding. Zwei Personen müssen sich schon sehr mögen, um darin zu übernachten. Anne kocht noch einen Tee, dann ist es auch schon dunkel.
Ich lausche den Nachtgeräuschen. Rascheln im Laub, Tiere, Wildschweingulasch? Die Nächte sind lang um diese Jahreszeit und die heutige toppt alle – Winterzeitumstellung. Doch kalt ist es nicht, nur unbequem.
Auf dem Decathlon-Weg
Als es endlich dämmert bin ich ganz froh, mich aus dem Schlafsack pellen zu dürfen und Kaffeewasser aufzusetzen. An den Bäumen leuchten die Blätter golden im Gegenlicht der aufgehenden Sonne.
Das Zelt ist schnell abgebaut, schneller als aufgebaut. Bald schon sind wir wanderfertig. Es geht zurück auf den Wanderweg und dann immer sanft bergab. Links ein Hochsitz, rechts eine Kirrung, Rüben, Heu, Salz – Wildschweingulasch?
Der Weg endet auf einer Asphaltstraße. Wir folgen ihr ein Stück und biegen dann nach rechts auf einen Forstweg ab. Schwarzes poröses Lavagestein zu unseren Füßen. Die Kuppen müssen früher mal Feuer gespuckt haben. Der Weg führt auf eine Weide. Esel grasen und kommen neugierig zu uns an den Weidezaun. Ein Stück weiter grasen Ponys und schließlich große schwarze Büffel. Nach den Büffeln nichts mehr, auch keine Markierung. Wir suchen, doch erst im dritten Versuch stimmt die Richtung. Blaue Plastikbänder flattern an den Zweigen – on the Decathlon trail. Auch das rote Kreuz zeigt sich wieder. Nicht mehr lang, dann wird es von einem grünen Band abgelöst – Mittagspause!
Nach ein paar Metern zweigt links ein Wanderweg ab, mit rotem Punkt markiert. Auf meiner Karte zweigt da nichts ab. Wir laufen weiter. Der Pfad führt bergab, erst sanft dann immer steiler und bald finden wir uns in einer wilden Schlucht wieder.
Bäume liegen am Boden, ein Bächlein, oft komplett mit gelben Blättern bedeckt, schlängelt sich durch den Wald. Wir folgen ihm stromauf. Die Markierungen sehen recht neu aus, der Weg nicht. Oft ist er gar nicht da, dann wieder taucht er plötzlich auf. Mit so einer Wildnis hatte ich hier gar nicht gerechnet. Wir kommen nur langsam voran. Anne glaubt zwei Rehe zu sehen. Die Tiere bleiben kurz stehen – nein es ist ein Pärchen Hirsche. Ohne Eile laufen sie den Hang hinauf und verschwinden im Wald.
Wir rascheln weiter durchs Laub, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Bachs. Da das Herbstlaub den Bach bedeckt, ist eine Querung nicht immer problemlos. Ein großer Schritt und Sch… da war noch Wasser. Windböen fegen den Berghang herab, das Laub wirbelt wild durcheinander, bunte Blätter tanzen um unsere Beine. Doch nur kurz. Bis ich meine Kamera vor der Nase habe ist alles vorbei. Wir kommen nur langsam voran, zu langsam. Unser Etappenziel das Dorf Mátraszentimre werden wir wohl nicht mehr erreichen. Und somit auch kein Hotelbett. Im Nachbardorf Mátrakeresztes gibt es laut Google keine Unterkünfte. Unser Notzelt wird zum Standard, wie es scheint.
Wasser brauchen wir auch, aus dem recht langsam fließenden Bach wollen wir es nicht nehmen. An einem Seitenarm fülle ich schließlich doch meine Trinkflasche. Den Weg zu finden wird immer schwieriger, je höher wir kommen. Oft ist er durch Brombeergestrüpp zugewachsen und kaum zu erkennen. Auch die Markierungen sind nicht mehr so frisch wie am Anfang der Schlucht. Zwischen dichtem Buschwerk zieht sich der Pfad links den Hang hinauf und endet auf einem breiten Forstweg. Endlich können wir wieder richtig ausschreiten.
An einem Baumstamm leuchtet uns noch einmal das grüne Band entgegen, dann bleibt es verschwunden. Auch die Decathlon-Streifen zeigen sich nicht mehr. Laut Karte müssen wir irgendwie nach oben, doch am Hang führt kein Weg hinauf nur dichtes Brombeergestrüpp überwuchert die Bergflanke – kein Durchkommen. Wir entscheiden uns für die einfachere Variante und folgen der Forststraße, die Richtung stimmt ja. Unter uns erstreckt sich das Tal, in dem wir gelaufen sind. Wunderschön leuchtet der bunte Wald in der Nachmittagssonne.
Nach ein paar Biegungen stimmt die Richtung nicht mehr. Dafür stoßen wir auf eine neue Markierung – grünes Kreuz. Wir folgen ihr. Es geht zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, nur ein Stück weiter oben. Anne ist müde, hat keine Lust mehr. „Der Weg hört gar nicht auf.“ Sie braucht ein Ziel, ankommen irgendwo. Ich finde ein Ziel in Form eines Wegweisers. Mátrakeresztes, 50 Minuten, rotes Band. Das ist unser Weg. Anne ist wieder fit. Wir verlassen den Mátra-Kamm und tauchen ein in dunklen Nadelwald. Der Weg führt nun stetig bergab und endet direkt vor dem Eingang der Dorfkneipe – Nyílta. Sehr gut!
Kein Wildschweingulasch, nicht gut! Immerhin gibt es eine Bohnensuppe mit Gulasch-Charakter (Babgulyás). Was es nicht gibt, ein Hotel. Doch die Dame am Nachbartisch holt ihr Smartphone hervor und eine intensive Kommunikation in Ungarisch beginnt. Nach einer Weile reicht sie mir ihr Smartphone und ein Typ bietet mir ein Gästezimmer an – Verzsó Vendégház, 4000 Forint (13,43 EUR) pro Person (fő). Unser Problem ist nicht der Preis, die Unterkunft ist in Hasznos, ein Vorort von Pászto. Das sind 8 km! „Der Bus fährt um 18:27 Uhr“ sagt die Frau. Wir bedanken uns für ihre Mühe.
Der Wirt wird ganz unruhig – autóbusz! Es ist der letzte Bus nach Pászto. Wir werden biwakieren. Ein Typ am Tresen mit Bierflasche, der etwas Englisch spricht, beruhigt den Armen. Wir bestellen noch ein Glas Rotwein und begeben uns dann auf Schlafplatzsuche.
Ein paar Meter den Hang hinauf, auf dem Weg den wir abgestiegen sind, ist ein Flecken Wiese, halbwegs eben. Anne ist fasziniert vom glitzernden Sternenhimmel. „Schau mal die Milchstraße!“ Ich schaue auf das beginnende Glitzern im Gras und bin nicht so fasziniert. Hab nur eine dünne Z-Lite und meinen hinten offenen Nunatak-Quilt. Doch sie hat Recht, die Sterne sind schön!
Galyatető
Am nächsten Morgen ist der Flecken Wiese auf dem unser Zelt steht weiß. Drumherum ist kein Eis. Wir hatten uns sozusagen im Kühlschrank das Eisfach ausgesucht, um zu übernachten…
Das wundert auch ein Bäuerlein mit langer Stielaxt. Leider verstehen wir kein Wort. Hinter dem Dorf auf einer Wiese treffen wir den Typen mit seinem Kumpel aus der Kneipe. Sie hatten in Hängematten biwakiert. Wieder führt der Weg in ein schluchtartiges Tal. Schwarze Felsen über uns, Haken blinken im Sonnenlicht – hier wird geklettert. Dort wo sich das Tal weitet, mündet von rechts ein Pfad mit rotem Kreuz markiert, es ist unser Weg nach oben. Warm wird’s, die Jacken kommen in den Rucksack. Ein Trailrunner kommt uns schwitzend entgegen. An einem Baum leuchten bunte Wegmarkierungen: rotes Band, grünes Band, grünes Quadrat, rotes Kreuz, ein violettes „m“ und ein blaues „M“. Das blaue „M“ ist unser Zeichen. Es wird uns ab jetzt fast durch das gesamte Mátra-Gebirge führen.
Erst einmal führt es uns zu einer Berghütte – Ágasvári Turistaház. Ich hatte sie auf der Wanderkarte glatt übersehen. Kaffeepause! Und da es kuschelig warm ist, essen wir auch gleich etwas – Omelett für Anne, fette Würstchen mit scharfem Paprika für mich. Wo es hingehen soll, will die Dame an der Theke wissen. Wir sollen den Kammweg nehmen, heute könnten wir die Tatra sehen. Hinter dem Gebäude auf einer Wiese haben Hobbyastronomen ihre Teleskope aufgebaut – klar der Sternenhimmel letzte Nacht.
Hinter der Berghütte erreichen wir den Fernwanderweg E4. Ein Pfad mit blauem Dreieck markiert, zweigt zum Kamm des Ágasvár (789 m) ab. Er ist steil, wie alle Gipfelanstiege im Mátra-Gebirge. Die Hüttenwirtin hatte recht, oben angekommen, bietet sich uns eine spektakuläre Fernsicht. Die Tatra-Berge sind schneebedeckt. Auf einem schmalen Pfad geht es ostwärts zurück auf den E4. Es ist warm. Kurz vor Mátraszentistván verlocken ein paar sonnenbeschienene Felsbrocken zum Pausieren. Zelt und Schlafsack trocknen, Tee kochen und Annes Füße mit Tape und Kyttasalbe verarzten.
Es sind erstaunlich viele Wanderer unterwegs. Und es werden mehr, je näher wir unserem Ziel kommen – Galya-tető. Bäumchen über und über mit roten Früchten bestückt, wachsen am Wegesrand. Wie Hagebutten schmecken die nicht, stellt Anne fest. Wir tippen auf Weißdorn, sind aber nicht sicher. Zwischen den Buchen taucht ein Turm auf, ein Rentnerpärchen überholt uns schroffen Schrittes. Die Dame trägt einen Rucksack, zweimal so groß wie meiner, der Opi wackelt mit einem kleinen Tagesrucksack hinterher. Den Turm auf dem dritthöchsten Gipfel (964 m) des Mátra-Gebirges besteigen wir nicht, er kostet Eintritt. Den Gipfel umgibt ein Touristenort gleichen namens. Heute brauchen wir nicht biwakieren. In der Touristenherberge, Galyatető Turistacentrum herrscht Hochbetrieb. Das Personal hinterm Tresen hat Stress. Englisch spricht nur einer. Wir können hier übernachten, im Massenquartier. Hm, doch zelten?
Wir können es gegenüber im Hotel versuchen – 4 Sterne, komplett ausgebucht. Auch Ungarn haben morgen Feiertag! Die Sonne geht bald unter und ein ruhiges Plätzchen werden wir hier nicht finden. Also doch die Massenunterkunft.
3000 Forint kostet das Bett, 1000 Forint das Frühstück (Reggeli, klingt ja fast wie Schwiizerdütsch) und 350 Forint die Touristensteuer. Wir bekommen eine Plastikkarte die uns Tür und Tor zu allem Möglichen öffnen wird. Das Massenquartier ist echt geschmeidig, zwei Doppelstockbetten gegenüber, von den nächsten durch eine Wand getrennt. Ich hatte schon Angst in der Nacht den Ellenbogen meines Nachbarn im Kreuz zu spüren.
Im letzten Sonnenlicht schauen wir uns unser morgiges Ziel an. Rot leuchtet der „Blauen“ des Mátra-Gebirges – Kékestető (1014 m), der höchster Berg das Landes. Vörösestető wäre jetzt der passende Name.
Das Touristenzentrum ist nur auf einheimische Touristen eingestellt, die Speisekarte offeriert zwar ein reichhaltiges Angebot doch nur auf Ungarisch! Zum Glück hilft uns der englisch sprechende Angestellte. Anne isst heute mal Italienisch (Penne), ich dagegen bekomme endlich das, worauf ich schon lange gehofft hatte – Vaddisznógulyás / Wildschweingulasch!
Kékestető
Ungeduldig rutsche ich am Morgen auf meinem Stuhl hin und her. Ich will endlich los. Endlich bringt die Bedienung unser Frühstück, Würstchen für mich, Ei für Anne. Gegen Acht dann Aufbruch. Der Himmel ist etwas bewölkt, Regen war vorhergesagt. Noch brechen Sonnenstrahlen durch die Wolken. Der Kékestető hat seine Farbe wieder – bläulich. Blau ist auch unsere Wegmarkierung. Alles passt. Im Dorfladen haben wir etwas zu Essen gekauft, Äpfel, Paprikawurst, Käse und Brötchen. Vielleicht brauchen wir es noch.
Ein Bergrücken verbindet den dritthöchsten Berg mit dem höchsten Berg Ungarns, über ihn führt unser Wanderweg. Wir haben von hier eine schöne Sicht hinunter ins Tal von Parádsasvár. Obwohl heute Feiertag ist, kommen uns weniger Wanderer entgegen als gestern. Am Vörösmarty-Gästehaus verlassen wir den blau markierten Weg. Gelb ist jetzt unsere Farbe. Erst ein Quadrat, später ein Band. Der Weg scheint mir kürzer als der blau markierte Weg über Mátraháza. Ein Wegweiser bestätigt es – bis zum Gipfel eine Stunde. „Das wird wohl unsere schwerste Stunde“ sagt Anne. Sie soll recht behalten. Der Anstieg ist so steil, dass wir uns an Bäumen halten müssen, um nicht wegzurutschen. Da sag noch einer, Ungarn hätte keine Berge! „Nie wieder ohne Stöcke“ so Annes Resümee, als es endlich sanfter wird. Gut, dass es nicht regnet! Eine Familie kommt uns von oben entgegen. Die Frau steht schon jetzt etwas wackelig auf den Beinen. Ob die wissen, was sie noch erwartet?
Uns erwartet jetzt keine weitere Herausforderung, sanft zieht sich der Weg zum höchsten Punkt Ungarns. Ein Stein mit den Nationalfarben Ungarns, rot – weiß – grün, markiert den Gipfel. Für 480 Forint darf der Wanderer auf die Aussichtsplattform des Fernsehturms. Es weht ein kalter Wind – für uns ein Grund zum Besuch des Gipfel-Restaurants – Pause. Es gibt unter anderem Gulaschsuppe, Fleischeintopf mit sauren Gurken und Schwarzbier – Kozel.
Hier bleiben wollen wir nicht, es ist ja noch früh am Tag. So brechen wir gegen 14 Uhr auf und folgen dem Kékes-Kamm nach Osten. Felsen tauchen auf. Hatalmas sziklák – Riesenfelsen, Erzsébet-szikla (Erzsébet-Felsen), Sas-kő (Adlerstein), Disznó-kő (Schweinestein). Unterhalb des Adlersteins sehen wir die qualmenden Kühltürme des Braunkohle-Kraftwerks Mátra – Ungarns zweitgrößtes Kraftwerk.
In einem Sattel, auf unserer Wanderkarte Markazi-kapu genannt, wollen wir biwakieren. Zum einen wird es bald dunkel, zum anderen ist der Platz recht eben. Anne kocht Tee, ich habe noch eine Büchse Kozelbier aus dem Gipfel-Restaurant. Bis auf ein paar Erdnüsse und Kekse für morgen, essen wir alles auf – Brötchen, Käse und Wurst. Laut einem Wegweiser sind es noch knapp 17 Kilometer bis Sirok. Das sollte morgen zu schaffen sein. Von dort wollen wir nach Eger fahren.
Tető rauf, tető runter
Die Nachtgeräusche waren nicht zu überhören. Windböen rasselten durch die Baumwipfel. Der ganze Wald heulte auf und beruhigte sich erst in den Morgenstunden. Wir knabbern die letzten Kekse und noch ein paar Erdnüsse, packen und brechen auf, Endspurt. Geradlinig geht es wieder über die Berge, jeden tető der auf dem Weg liegt rauf und runter. Das stärkt die Oberschenkel. Mit den Sporteinlagen von Footactive läuft es sich problemlos. (Guter Tipp, Becks!) Der Wind hatte die Bäume kahler gemacht, das Laub liegt nun am Boden. Es raschelt wieder beim Laufen, Anne mag es. Ein Rastplatz wurde von der EU gesponsert – Teepause. Hirschfliegen (Lipoptena cervi) ärgern mich beim Laufen, irgendwie scheinen mich die Viecher zu mögen. Anne lassen sie in Ruhe. Nach einem Abstieg erreichen wir die einzige Quelle auf unserer Wanderung – Jóidő-kút. Anne füllt noch mal ihre Trinkflasche. Die tetős werden kleiner, das Laub der Bäume wieder bunter. Ein Waldabschnitt ist eingezäunt. Wie damals in Wales klettern wir über stiles wieder hinaus. Nach 6 Stunden stehen wir auf der Straße nach Sirok. Das Gebirge liegt hinter uns. Die Bahnstation ist verlassen, es sieht nicht so aus, als ob hier ein Zug vorbeikommen würde. Wir entscheiden uns, bis in den Ort zu laufen und mit dem Bus nach Eger zu fahren. Kurz vor dem Dorf kommt ein Bus, fährt vorbei ohne zu halten. Früher war das anders! Wir laufen weiter. Nach 20 Minuten endlich eine Haltestelle. Das Bushäuschen wird von Marienkäfern belagert. Laut Fahrplan kommt der nächste Bus in 15 Minuten. Ich freue mich auf Eger. Vor 28 Jahren war ich schon einmal dort, ich bin sehr neugierig, ob ich etwas wiedererkenne und was sich verändert hat.
Erinnerungsspuren in Eger
Auch in Eger ist Herbst, gelbe Blätter liegen auf dem Gehweg. Hotel Aqua – ich hatte es daheim als Wegpunkt auf meinem GPS gespeichert. Ich lade den Wegpunkt, drücke Enter. Ein rosa Balken verschwindet am Displayrand, wir folgen ihm. Nach einer Weile werde ich unsicher. Irgendwie stimmt die Richtung nicht. Ich verfolge die rosarote Route auf dem Display. Sie führt an den Stadtrand, macht einen großen Bogen um Eger und führt von der gegenüberliegenden Richtung zum Hotel – Scheißteil!
Anne findet die Touristeninfo – wir fragen. Die Hostels sind voll – Semesterbeginn. Der Mann macht ein Kreuz auf dem Stadtplan – Hotel Estella. Es ist recht günstig und freie Zimmer – „Kein Problem, wir haben Nebensaison“, so der Typ. Es ist nicht weit zum Estella, einmal links, einmal rechts und wir sind da.
„Drei Nächte? Tut uns leid, zwei kann ich ihnen anbieten und nur in der Suite – 60 EUR.“ Wir überlegen kurz. Der Preis ist gar nicht mal das Problem, aber ich habe wenig Lust am Freitag noch mal umzuziehen. Wir bedanken uns und wollen wo anders schauen, es ist ja Nebensaison.
Im Eger-Park-Hotel: „Drei Nächte? Wir sind ausgebucht – Konferenzgäste.“ Es wird bald dunkel. Wir entscheiden uns nun doch für die Suite. Morgen wird sich schon was finden zur Nebensaison.
Am nächsten Morgen im Hotel Flora (4 Sterne): „Wir sind ausgebucht.“ Im Hotel Aqua – ausgebucht. „Es sind Herbstferien.“ Wir sollen es im Hotel Korona versuchen. Vor 28 Jahren nächtigten wir auf dem Campingplatz. Wenn das so weiter geht, kommt mein Zelt doch noch mal zum Einsatz. Von wegen Nebensaison! Noch einmal quer durch die Stadt gelatscht, dann haben wir im Korona endlich Erfolg, wir reservieren ein Zimmer für Freitag, 85 EUR – Wellnessbereich inklusive.
Das wäre erledigt! Nun geht es auf Spurensuche. Ein Ereignis von meinem Egerbesuch 1988 ist bis heute in meinem Gedächtnis haften geblieben – der Besuch im „Tal der schönen Frau – Szépasszonyvölgy“. Weinkeller an Weinkeller in den Hang gebaut, lockte den Gast mit lokalen Weinen. In mein Tagebuch notierte ich damals:
Abends wollten wir das „Tal der schönen Frauen“ von Eger besuchen. In diesem Tal reiht sich Weinkeller an Weinkeller. In Nummer 38 kehrten wir ein. Nicht nur der Weinkeller war brechend voll auch davor auf der Wiese lagen Menschen. Teilweise noch bei guter Stimmung, teilweise lagen sie nur noch rum, wie im Koma. Wir kosteten erst mal jeder ein Glas „Medoc Noir“. Dann folgte der erste Liter für 70 Forint. Der Wein schmeckte so gut, dass wir insgesamt 5 Liter vernichteten. Zwischendurch gab es Fettstullen mit Zwiebeln. Irgendwie und irgendwann landeten wir mitten in der Nacht wieder auf unserem Zeltplatz.
Na auf den Zeltplatz müssen wir nun doch nicht. Ich möchte dennoch mal vorbeischauen und erkenne ihn nicht wieder.
Damals: Der Zeltplatz in Eger soll der flächenmäßig größte Ungarns sein. Das Gelände gehörte früher einem Gutsherrn. Es gab wieder viele Stände, wo man Bier, Eis oder etwas zu Essen kaufen konnte. Vor einem Restaurant und einem Weinkeller spielten Musikanten Puszta-Melodien.
Heute stehen in einem eingezäunten Areal ein paar Wohnmobile auf einem Stück vertrocknetem Rasen. „Tulipán Camping“ steht auf einem Schild. Gegenüber eine noble Hotelanlage – Villa Völgy, 4 Sterne.
Auf der anderen Seite das Tales befinden sich die nichttouristischen Weinkeller, meistens verschlossen. Bei einem steht die Tür auf. Anne schaut rein. Ein Winzer presst gerade seine Trauben aus, es gibt Rotwein. Leider können wir uns nicht unterhalten, er spricht ein wenig russisch.
In den touristischen Weinkellern erlebe ich auch eine Überraschung. Im ersten werden wir geflissentlich ignoriert. Der Typ hat ein Rendezvous mit seinem Smartphone. Also auf in den nächsten. Dort langweilt sich eine junge Dame hinter dem Tresen. Wir können ein Glas Rotwein und ein Glas Rosé probieren. Der Rotwein ist sauer, der Rosé ganz okay. Wir fragen nach einer Flasche zum mitnehmen – Fehlanzeige. Rotwein ja, Rosé gibt’s nicht.
Alle guten Dinge sind drei. Wir probieren noch einen Weinkeller. In der Bude ist leben, fast alle Tische belegt nur vorn am Eingang bekommen wir Platz. Der Winzer, ein junger Bursche um die 20, empfiehlt uns gleich zwei Sorten Tűzmadár Cuvée – Phönix-Wein (rot) und Üstökös Cuvée – Kometen-Wein (weiß). Ein frisch vermähltes Paar am Nachbartisch ist gerade auf kleiner Hochzeitsreise. Als ich im August 1988 das erste Mal in Eger war, hatten beide das Licht der Welt erblickt. Da merkt man, was für’n alter Sack man geworden ist…
Wir kaufen dem Winzer gleich 4 Liter ab und schlendern in Richtung Stadt zurück. Der Mond nimmt ab, der Hunger zu. In einem Restaurant am Weg kehren wir ein. An der Wand ein Bildschirm – ein Kochwettbewerb wird übertragen. Lauter schöne Dinge zaubern die Köche und Köchinnen vor der Kamera, eine Jury bewertet. Leider kann des Essen im Restaurant nicht konkurrieren. Besonders Anne hat etwas Pech mit ihrer Wahl. Fischsuppe (halászlé) ist nicht so ihr Ding, das gegrillte Gemüse regelrecht widerlich – Geschmack nach talgigem Kokosfett. Na ja, wir haben ja noch den Wein…
Unser letzter Tag in Eger. Wir müssen umziehen. Unsere Rucksäcke können wir an der Rezeption deponieren ab 13 Uhr ist das Zimmer frei. So haben wir etwas Tagesfreizeit und gönnen uns eine Stadtbummel und den Besuch der Burg von Eger.
In meinen Aufzeichnungen stand: Im Zentrum steht eine große Gemüsehalle, dort gab es fast alle Obst- und Gemüsesorten der Gegend zu kaufen.
Die Markthalle gibt es immer noch. Das Angebot an frischem Obst und Gemüse war zwar nicht so groß wie damals, immerhin haben wir November. Fürs Abendessen und die Zugfahrt kaufen wir Paprikawurst (vom Mangalica-Schwein), Chili- und Schafskäse, eingelegte Gurken mit Sauerkraut gefüllt und Knoblauch-Paprika in einem Plastikeimer. Dazu zwei Kilo Weißbrot und in einem Laden bekomme ich sogar ein Glas Letscho.
Mit dem Gurkeneimer in der Hand geht es nun auf die Eger-Burg (Egri vár). Berühmt wurde das Gemäuer durch den Roman von Géza Gárdonyi „Egri csillagok – Die Sterne von Eger“. Vor der Burg auf dem Dobó-István-Platz steht das Denkmal des Burghauptmanns mit gezogenem Säbel. 1552 verteidigten auch viele Frauen aus Eger unter seinem Kommando die Burg gegen eine türkische Übermacht.
Der Eintritt kostet 1600 Forint (5,37 EUR) pro Nase. Gleich hinter dem Eingang werden die jungen Ungarn auf Linie gebracht. Mit Pfeil und Bogen, unter Anleitung eines korpulenten Herrn in historischer Tracht dürfen sie auf eine Holztafel schießen. Auf dieser ist ein grimmig dreinblickender Tatar (oder Türke) zu sehen, der an einer Eisenkette eine blonde Frau führt. Leider hat auch die Dame schon etliche Einschusslöcher aufzuweisen – Kollateralschaden?
Videos geben einen Einblick in den Aufbau und die Funktion der Verteidigungsanlagen. Schade finde ich, dass alles nur in Ungarisch erläutert wird, auf Ausländer hat man sich hier offenbar noch nicht eingestellt. Immerhin bietet die Burg einen schönen Blick auf Eger, sein Minarett, die Basilika und die ersten Höhenzüge des Bükk-Gebirges.
Es ist Zeit zurück ins Hotel zu gehen. Die Wellnessoption wollen wir nicht ungenutzt lassen. Mit Whirlpool, Thermalbad, Sauna und Relax-Massage (5500 Forint) lassen wir unseren Wanderurlaub in Ungarn ausklingen. Morgen geht es nach Budapest und von dort mit dem Nachtzug nach Zürich und zurück nach Deutschland.
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