Ich sitze in Mazedonien, hoch oben am Podgorecko-See in den Jablanicer Bergen. Ich schaue auf den See. Die umliegenden Berge spiegeln sich im Wasser, das Bild wird immer wieder durch kleine Wellen gebrochen, manchmal hört man das leise Plätschern springender Fische. Ich tauche meine müden Füße in das kühle Wasser. Es tut gut, erfrischt und entspannt. Es ist friedlich hier. Nach mehreren Stunden Wandern über Schneefelder und Pässe genieße ich diese Ruhe und Stille. Dankbarkeit überkommt mich, dass ich hier sitzen kann, an diesem See, mitten in den Bergen.
Vor fünf Jahren tauchte das erste Mal dieser Wunsch auf, wieder an einem einsamen Bergsee zu sitzen. Mein Bruder war gerade nach langer Krankheit verstorben. Er war der älteste von uns vieren und doch nur eineinhalb Jahre älter als ich. Es war ein Schock, nicht nur weil unser Vater im gleichen Alter verstarb und sich das Schicksal hier zu wiederholen schien, sondern vor allem, weil der Tod oder besser die Endlichkeit des Lebens so nahe gerückt war.
Ich stand doch voll im Leben, mit Beruf und Familie. Mein Leben war interessant, aber auch anstrengend, eine Anstrengung, die ich nach diesem Ereignis immer stärker verspürte. Sie vermischte sich mit dem Bedürfnis um meinen Bruder zu trauern, doch je stärker mir das Bedürfnis zu trauern bewusst wurde, desto mehr merkte ich, dass in meinem Leben für diese Gefühle kein Platz war. Mein Leben war erfüllt und gefüllt, durchorganisiert, Abläufe, Zeit und Orte festgelegt. Doch die Gefühle bahnten sich ihren Weg, der Druck stieg mit jedem Tag, brachte mich fast zum Implodieren. Immer öfter saß ich in meinem Büro und konnte in meinem Handeln keinen Sinn mehr sehen, ich spürte nur noch den steigenden Druck und die Unmöglichkeit ihm in meinem bestehenden Alltag nachzugeben bis ich die Reisleine zog. Mehrere Wochen zog ich mich zurück, schenkte mir die Zeit zu trauern und mein Leben zu überdenken.
Die Trauer, die Auszeit halfen mir, die Veränderungen in mir wahrzunehmen. Der Blick auf mein Leben hatte sich verändert. Mein Blick richtete sich immer weniger in eine offene Zukunft, sondern von der eigenen Endlichkeit zurück in das Hier und Jetzt. Damit drängte sich mir die Frage auf, wie will ich mein künftiges Leben weiter gestalten. Ist es gut so wie es ist oder muss ich etwas verändern? Was will ich auf jeden Fall noch einmal tun, was ist mir wichtig. Vergangene Bilder tauchten auf, über die Familie, frühere Reisen, Freunde und Erlebnisse. Das Bild wie ich Anfang 20 in den Pyrenäen am See sitze, taucht plötzlich auf und bleibt; wird zu einem Sehnsuchtsort für Ruhe, Muße und Entspannung. Um diesen erneut zu finden, machte ich mich sogleich auf den Weg.
Er führte zu Jobwechsel sowie vielen weiteren großen und kleinen Veränderungen in den letzten fünf Jahren, so dass ich heute meinen Traum verwirklichen konnte. Er steht für meine Entwicklung hin zu einem erfüllten Leben mit mehr Zeit und Raum für die großen und kleinen Gefühle, die mir täglich begegnen. So sitze ich jetzt hier, am See und empfinde die Ruhe und Muße sowie eine große Dankbarkeit, dass mir das gelungen ist.