Seit 1988 rannte ich nun durch die Karpaten, 19-mal insgesamt, davon 5-mal im Winter. Es wurde höchste Zeit einmal über den Tellerrand hinauszuschauen und etwas Neues anzuvisieren.
Das Neue musste im Osten liegen, der Westen interessierte mich nicht. Für mich kam nur ein Land infrage, soweit die Füße tragen – Sibirien.
Meinem Entschluss nach Russland zu fahren, stand lediglich die eigene Feigheit entgegen. Die Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes sprachen mir nicht gerade Mut zu. Und jemanden, der mich auf der Tour begleiten würde, fand ich nicht. Zu Hause galt ich ja schon als „sonderbar“, nur, weil ich mit dem Gedanken spielte, meinen Urlaub in Russland zu verbringen.
So hängte ich meine individuellen Reisepläne an den Nagel und suchte nach einer organisierten Tour – Puristen mögen mir verzeihen.
Ich googelte ein wenig durchs Internet und landete bei dem Reiseunternehmen Hauser. Die boten gleich mehrere Reisen nach Russland an, nur erreichten die Preise für mich entweder astronomische Dimensionen oder der Charakter der Tour war etwas für Leistungsfetischisten. Mit einer Ausnahme: Russland – Trekking und Bergsteigen im Goldenen Altai, las ich dort. Das war’s. Der Zeitraum im Juli passte, ich konnte sogar noch meinen Resturlaub verbraten.
Anreise
Beim Einchecken in Frankfurt brauchte ich nur nach den roten Hauser-Gepäckschildchen zu schauen, um die Reisegruppe ausfindig zu machen – zehn Teilnehmer plus unser Reiseleiter.
Die Gruppe
Da waren: Birgit, der „Liebling“ von unserem Reiseleiter. Karin, unsere geliebte Raucherin, die uns jede Mücke vom Leibe hielt. Monika, die hitzebeständige Banja-Besucherin, die noch ohne mit der Wimper zu zucken auf der obersten Bank saß, als es mir schon fast das Hirn weich kochte. Marion und Hagen, die ständig um ihr Auto bangen mussten, da ihr Autoschlüssel schon nach kurzer Zeit verschollen war. Markus, der wohl von uns am meisten unter dem Essen zu leiden hatte. Norbert, der Schwarm aller russischen Köchinnen und Julia, Norberts „Haserl“. Die, wenn sie ein festes Dach überm Kopf hatten, auch zusammenzogen. Klaus, für den die Welt in Ordnung war, wenn er abends nach einer ausgiebigen Essensration sein Bierchen hatte. Und natürlich Gottfried, unser sozialwissenschaftlicher Reiseleiter, der nach dieser Tour sicher noch ein paar graue Haare mehr auf dem Kopf hatte.
Wir starteten etwa eine Stunde später als geplant. Ich knabberte an meinem Startbonbon und versuchte mich irgendwie mit meinen Beinen zu arrangieren. Ich mochte nicht fliegen, stellte auch keinerlei Ansprüche, sondern war zufrieden, wenn ich heil auf der anderen Seite herunterkam.
Nach 6 Stunden landeten wir am nächsten Morgen um 7 Uhr in Nowosibirsk. Prüfende Blicke musterten erst meinen Pass, dann mich. Ein Stempel krachte auf die Seite neben dem Visum, dann durfte ich Russland offiziell betreten.
Im Flughafengebäude empfing uns Sergej, der Boss von SIBALP, dem Partnerunternehmen vor Ort. Für unser Wohlbefinden würden in den nächsten Tagen 8 Personen sorgen. Da war Leonid, der Busfahrer, der uns bis Gorno-Altajsk, der Hauptstadt der autonomen Republik Altai bringen sollte. Nadja und Tanja waren für unser leibliches Wohl verantwortlich. Iwan und Wolodja sollten uns in und auf die Berge des Altais führen. Und damit es keine Kommunikationsprobleme gab, sorgte unsere Dolmetscherin, eine Dame mit blonden Haaren, Sonnenbrille und 1000-Rubel-Fingernägeln. Ihr Name war Natascha.
Die Nummer 7, Sascha den LKW-Fahrer, würden wir erst in Gorno-Altajsk kennenlernen und Nummer 8, Roman, der Zelte, Küche und Inventar transportieren sollte, in Anos auf Sergejs Datscha.
Anos
Wir stapelten unsere Rucksäcke auf den Rücksitzen des Busses, einem Import aus Korea, dann ging es los. Es war jetzt 8:45 Uhr. Normalerweise lasse ich meine Touren immer gemütlicher angehen, aber wir standen etwas unter Zeitdruck. Die Republik Altai gehört zwar zur Russischen Föderation, hat aber ihre eigenen Einreisebestimmungen. Die Meldestelle in Gorno-Altajsk schloss um 17 Uhr, dort mussten wir uns noch einmal registrieren lassen. Im Grunde wollte jemand nur wieder Geld kassieren. 50 Euro kostete eine Registrierung, wie ich später erfuhr.
Die Sonne brannte, zum Glück funktionierte die Klimaanlage im Bus, ich dämmerte ein.
Pinkelpause in Talmenka; 5 Rubel kostete es, wir prellten die Zeche; Hirsefelder huschten vorbei; zwei Unfälle zwischen Barnaul und Bijsk, die Toten lagen noch auf der Strasse. In Srostki machten wir wieder Pause. Hier lebte der sowjetische Erzähler, Schauspieler und Regisseur Wassili Makarowitsch Schukschin (25.7.1929 – 2.10.1974). „Kalina Krassnaja“ („Roter Holunder“), ist wohl seine bekannteste Regiearbeit.
Auf dem Markt kaufte Gottfried Honigwein und Kwas, ein vergorenes Mehl- oder Brotgetränk, das ich schon aus der Ukraine kannte und nicht sonderlich mochte. Es war kurz vor fünf, als wir Gorno-Altajsk erreichten. Natascha, Marion und Gottfried füllten die Formulare aus, die zur Registrierung notwendig waren. Ab jetzt ging es mit einem LKW des russischen Katastrophendienstes („Ministerstwo Tschereswytschajnych Situazij“ kurz MЧC) vom Typ Kamaz weiter, Saschas ganzer Stolz. „Kamaz siegte 3-mal bei der Dakar-Rallye“, erzählte er.
Da der Bürokratie Genüge getan wurde, konnten wir die Fahrt nun gemütlicher angehen. In einem Restaurant das Bereska (Birke) hieß, gab es das erste Bierchen – Marke Worsin.
Bis Anos, unserem Tagesziel waren es noch etwa 2,5 Stunden, immer am Katun entlang. Das Tal des Katun schien ein beliebtes Urlaubsziel zu sein. Auf jedem freien Fleckchen standen Zelte, am Straßenrand Kioske mit allerlei Krimskrams. Einer hatte sogar Karten der Republik Altai im Angebot. Ein paar Rubel tauschte ich bei Sergej. Mir war klar, Altai-Karten wurden in Deutschland sicher genauso angeboten wie Bananen zu DDR-Zeiten.
Nach etwa 450 km erreichten wir gegen Dreiviertel neun Sergejs Hütte in Anos. Ich bezog mit Gottfried und Klaus ein Zimmer mit Bärenfell und Steinbocktrophäen an den Wänden sowie Fenstern, die sich nicht öffnen ließen. Alles in allem war es aber ganz komfortabel. Nur das WC war eine Attrappe, die Spülung funktionierte nicht. Dafür gab es das Plumpsklo auf dem Hof.
Das Abendessen war ukrainisch-russisch: Borschtsch gab’s vorneweg danach Kascha, ein Buchweizenbrei. Genau so musste gemahlener Schrank schmecken, dachte ich mir. Wir sollten noch Gelegenheit haben, alle Variationen des Gerichtes ausgiebig kennenzulernen.
Tschujskij-Trakt
Auf dem Tschujskij-Trakt, einer alten Handelsstrasse in die Mongolei, starteten wir in Richtung Jaloman. An dem Nebenfluss des Katun würden wir heute zelten. Roman, der Fahrer eines kleinen LKWs, fuhr mit einem Teil der Begleitmannschaft voraus, um im Lager die Zelte aufzubauen. Wir folgten mit dem Rest im Kamaz.
Nach etwa 8 km erreichten wir Kamlak. In der Nähe des Ortes stand der Besuch eines botanischen Gartens auf dem Plan. Unsere Botanikerin Julia nahm ihren Job sehr ernst. Sie hielt über jedes Kraut, was hier wuchs, eine wissenschaftliche Abhandlung, mehrere Minuten lang. Natascha, unsere Dolmetscherin, filterte die Informationen wie eine Firewall auf dem Heimcomputer und reduzierte den Output auf 2 Sätze. Trotzdem, oder gerade deswegen, blieb doch einiges bei mir hängen. So gibt es eine Pflanze mit großen Blättern, die Russischer Badan (Bergenia crassifolia) heißt. Der Tee aus den abgestorbenen Blättern ist gut gegen Durchfall, aber erst nach 2 – 3 Jahren Lagerung, sonst bekommt man Durchfall. Weiterhin gibt es den Kurilentee ohne Aroma aber mit gelben Blüten.
Wir bekamen Tipps zum Überleben: Pfennigkraut (Lysimachia nummularia), hilft gegen Mückenstiche und Stachlige Sternwurz (Orostachys spinosa), speichert Wasser. Zwiebeln die Alium heißen und zwischen 1500 bis 3000 m wachsen, gibt es nur im Altai. Sie überwintern bei -50 ° C und dienen den Bewohnern dann als Gemüse. Wacholderbüsche sind im Altai heilig. Die Schamanen zünden die Zweige an und ziehen sich den Dampf rein, um high zu werden und mit den Seelen sprechen zu können.
Der nächste Ort, an dem wir eine Pause einlegten, war ein Pass, der Seminskij heißt. Eine Baumharz kauende Frau verkaufte Kiefernzapfen und ein Denkmal erinnerte an das Jahr 1756, als das Altai-Gebiet an Russland angegliedert wurde. Erste Versuche in dieser Richtung gab es bereits schon früher. So wurde 1680 ein Fort in Bijsk errichtet und versucht die Altaier vom Vorteil einer russischen Integration zu überzeugen. Doch stur, wie Bergvölker nun mal sind, dauerte es noch fast 80 Jahre bis der Doppeladler des Zaren auch über den Bergen des Altai schwebte.
Doch Bergvölker sind auch naturverbunden. Die Naturverbundenheit der Altaier äußert sich zum Beispiel im Züchten von Maralhirschen. Den Tieren werden die Geweihe abgesägt, die dann in Korea, China oder Taiwan Devisen einbringen. Was allerdings immer schwieriger wird, da die Neuseeländer das Gleiche wollen. In der Nähe des Passes sollte es ein Gehege mit Maralhirschen geben. Die Viecher dachten jedoch nicht im Geringsten daran, sich einer Herde von Touristen zu präsentieren. Wir waren ihnen vielleicht nicht naturverbunden genug.
In der Ortschaft Ongudaj am Ursul-Fluss gab es was zu essen und „Shigulewskoje pivo“ aus der russischen Staatsbrauerei. Der nächste Pass heißt Tschike Taman und ist 1260 m hoch. Wir hielten nur kurz für eine Pinkelpause und düsten dann hinunter ins Tal des Katun. Der Kamaz verließ die Strasse und bog ab in Richtung Fluss. Mitten auf einer Art Uferterrasse hielten wir. Wolodja führte uns zu einem Kurgan, einem Grabhügel der Skythen aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Ein Menhir, mannshoch, steckte in der Erde. Deutlich konnte man Gesichtszüge eines Mannes erkennen. Der Stein erinnerte mich an meine Tour in Wales, nur dass die Steine dort keine Gesichter hatten.
Gegen 19:15 Uhr erreichten wir unser Lager am Jaloman. Die Zelte standen bereits, zum Abend gab es Fischsuppe. Gottfried überraschte uns mit einer Neuigkeit. Wir hatten ein Geburtstagskind in der Gruppe – Monika. Sie bekam unter anderem eine Flasche Wodka „Sibirski Charakter“, der allen zugutekam.
Am nächsten Morgen durften wir die zweite Kascha-Variation kennenlernen. „Kascha mannaja“ nannte sich das, auf Deutsch: Griesbrei. „Mannaja“ sollte an das biblische Manna erinnern, mit dem Gott das Volk Israel speiste, auf ihrem Weg durch die Wüste. Für was der Liebe Gott so alles herhalten musste, konnte ich nicht so recht verstehen. Zum Glück musste keiner seinen Teller leer essen, wie früher bei Papa und Mama.
Wir verstauten unsere Taschen, Ruck- und Seesäcke im Kamaz, und brachen auf, um unseren kulturellen Horizont zu erweitern.
Steppe
In Inja, wo noch ein Bronze-Lenin ein Auge auf seine Genossen warf, verließen wir das Tal des Katun. Jetzt folgten wir der Tschuja, dem Namensgeber unserer Strasse – dem Tschujskij-Trakt.
Der erste Höhepunkt war ein Ort der Kalbak Tasch heißt, übersetzt „Steinerner Löffel“. In den umliegenden Felsen hatten Menschen vor 1500 bis 6000 Jahren Motive in den Fels gezeichnet. Die Zeichnungen stammten vermutlich von den Skythen und Türken. Sie zeichneten vorwiegend Tiere: Hirsche, Steinböcke, undefinierbare Fabelwesen. Spätere Völker malten Menschen in Kriegs- und Jagdszenen.
Gegen Mittag erreichten wir die Kurajsker-Steppe. Über der trockenen Ebene erhebt sich der vergletscherte Gebirgszug der Nordtschuja-Bergkette mit den beiden 4000ern Aktru und Maaschej. Da Gottfried als begeisterter Fotograf vorn mitfuhr, sorgte er für reichlich Fotostopps auf der Strecke.
Am Tuitugem-Bach gab’s was zu futtern. Brot und Salami, zum Dessert Schokolade und Kekse. In Kosch-Agatsch, der größten Siedlung im Südosten der Republik Altai, konnten wir shoppen gehen. Treffender als mein Lonely Planet – Reiseführer „Russland“ hätte ich Kosch-Agatsch (auf Deutsch: Holzgatter) nicht beschreiben können: „…Kosh-Agach is like the end of the world…“, stand dort.
Die Region in der Tschuja-Steppe wird immer wieder von heftigen Erdbeben geplagt. Eines der Stärke 7 ereignete sich erst im September letzten Jahres. Die Hauptstrasse sah aus, als ob das Letzte erst gestern gewütet hätte. Risse und Wellen sorgten für eine natürliche Geschwindigkeitsbegrenzung, fast wie daheim in Freiburg – St. Georgen vor der Kirche.
Im Produkt-Laden gab es Bier, Klaus erwischte das letzte Eisschrankgekühlte. Ich ließ es bleiben. Natascha kaufte Birkensaft (sok beresowyj), was mein Interesse weit mehr weckte.
Ab jetzt ging es quer durch die Tschuja-Steppe nach Osten. Staub wirbelte über die Piste, Kamele trotteten den Berghängen am Horizont entgegen. Alles war grau und staubig, nur an den Berghängen, wo Bäche ins Tal sprudelten, wuchs ein schmaler Waldgürtel aus Sibirischen Lärchen. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont, als wir unser Lager am Kizilschin-Bach erreichten, 60 km von Kosch-Agatsch entfernt. Schon von Weitem blinkten Küchen- und Messzelt in den Sonnenstrahlen.
Als Erstes hieß es nun Zelte aufbauen. Ein Abenteuer für sich. Unser Zelt, ein Salewa-Iglu, war der Witz. Das Gestänge hatte bereits eine provisorische Flickstelle und musste wie ein rohes Ei behandelt werden. Die Heringe mussten wir uns schnitzen. Zum Glück gab’s genug Holz. Die einzigen Zelte, die genug Heringe hatten, waren die der Begleitmannschaft, wie es aussah. Es war mir eine Lehre. Nie wieder gehe ich auf eine Tour, ohne mein eigenes Zelt.
Mücken ärgerten uns am nächsten Morgen. Da halfen auch Wolodja’s Versicherungen nicht, dass es im letzten Jahr hier keine gab. Sie waren spürbar anwesend und wurden von Minute zu Minute penetranter. Glück hatte da derjenige, welcher beim morgendlichen Milchreisessen einen Platz neben Karin ergatterte, unserer Raucherin.
Auf dem Programm stand heute nichts Weltbewegendes, ein bisschen rumlatschen war angesagt. Wir holten uns nasse Füße beim Durchwaten des Kizilschin oder „Fluss, der unter den Steinen fließt“. Zwischen den Steinen blühte Kurilischer Tee und an den Uferböschungen wuchsen Zwergbirken – Karlikowaja Berjosa. Weiter oben zappelten gelbe Bergmohnblüten im Wind.
Von einem Gipfel, der laut Höhenmesser etwa 2600 m hoch war, blickten wir auf die verschwommenen Bergrücken in der Republik Tuwa.
Der Weg zurück führte über einen kleinen Friedhof. Die Gräber umspannte ein Lattenzaun und Erdhörnchen hatten den Toten schon mehrere Besuche abgestattet. Auf dem Weg zum Friedhof reihten sich leere Wodkaflaschen. So ein Begräbnis schien also eine feucht-fröhliche Angelegenheit zu sein.
Feucht-fröhlich ging es auch im Lager zu. Natascha machte mit Roman und unseren Küchendamen Tanja und Nadja Splash-Party. Sie hatten ja Zeit, das Abendessen war schnell angerührt. Mit einem bergbachkühlen Bierchen ließ sich der Hirsebrei leichter runterspülen. Nur die Mückenplage ließ sich nicht so einfach wegspülen, auch wenn es Gottfried versuchte. Mit einer Hand fuchtelte er in der Luft herum, die Mücke lachte nur und die Vorsuppe landete auf seiner Hose.
Roman hätte nach Kosch-Agatsch fahren können, um Mückenmittel zu kaufen. Das stand aber nicht im Programm. Außerdem hatte er keine Zeit und vermutlich auch keine Lust. Natascha nahm ihn voll in Anspruch, vor allem nach Sonnenuntergang.
So mussten wir am nächsten Morgen unseren Weg zum Gipfel des Tapduajr mit zerstochenen Armen und Beinen angehen.
Tapduajr
Der Tapduajr ist der höchste Berg in der Region, 3505 m hoch. Sascha fuhr uns mit seinem Kamaz bis zu einem Tal, wo ein paar Zelte standen. Sie gehörten der „Biosphären Expedition Altai“. Wissenschaftler sind auf der Suche nach Schneeleoparden, die hier in den Tapduajr-Bergen leben sollen. Ihre Arbeit finanzieren unter anderem die Teilnehmer der Biosphären Expedition.
Ausgelöst wurde das Projekt durch Schafräuber. Wölfe hatten den Schaf- und Ziegenherden der Hirten hohe Verluste zugefügt, worauf sie vergiftete Köder auslegten. Unter den Opfern befand sich neben Wölfen auch eine Schneeleopardin mit 2 Jungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fielen leider auch immer wieder Tiere Wilderern zum Opfer.
Iwan und Wolodja bekamen Funkgeräte dann stiegen wir im Tal auf. Nach einem kurzen Anstieg ging es auf einer Art Seitenmoräne dem Tapduajr entgegen. Nach eineinhalb Stunden erreichten wir einen Bach, der die Westflanke des Tapduajr heruntersprudelte. Diesem Bach sollten wir jetzt etwa 900 Höhenmeter folgen, bis in einen Sattel. Von dort bis zum Gipfel würde es dann nicht mehr weit sein. Da die Kondition der Leute stark variierte, einigten wir uns zwei Gruppen zu bilden. Monika, Klaus und ich wollten mit Iwan aufsteigen. Karin und Julia fühlten sich nicht in Gipfellaune, sie blieben unten. Der Rest der Gruppe sollte mit Wolodja gehen. Wolodja plante jedoch keinen Aufstieg zum Gipfel, sondern wollte ein wenig in der Gegend herumspazieren – allgemeiner Protest war die Folge. Also wurden zwei Gipfelteams gebildet.
Wir schnappten unsere Rucksäcke und folgten unserem Bergführer Iwan, der recht flott voranschritt. Der Weg durch den Bacheinschnitt war nicht schwierig aber ich kam bald ins Schnaufen, Schweißperlen glitzerten auf der Stirn. Monika und Klaus blieben zurück. Bald waren sie nur noch bunte Punkte im Gelände. Geröll rutschte unter meinen Schuhen und ich auch. Zwei Schritte nach oben ein halber zurück, so ging es die letzten Meter bis in den Sattel. Tief unter mir glitzerte ein Bergsee in der Sonne, grün wie ein Smaragd.
„Gehen wir?“, fragte Iwan. Ich nickte. Die letzten 200 Höhenmeter bis zum Gipfel ließen sich gemütlich laufen. Nach knapp zweieinhalb Stunden standen wir auf dem Tapduajr, mehr als 1500 Meter über der Steppe.
Iwan packte das obligatorische Vesper aus: Weißbrot, Salami, Kekse und Schokolade. Nach und nach füllte sich der Gipfel mit Menschen. Markus, Klaus, Monika … bis hin zu Birgit, die sich nach knapp eineinhalb Stunden zu uns hinaufgekämpft hatte.
Ein dumpfes Grollen am Himmel erinnerte uns, dass wir hier nicht ewig verweilen konnten. Auf einem Stück Papier verewigten wir uns. Ich spendierte eine leere Filmdose und Wolodja versteckte das so kreierte „Gipfelbuch“ unter der Steinpyramide, welche den Gipfel das Tapduajr symbolisierte.
Der Abstieg war durchaus vielseitig, ich wurde von Monikas stürmischen Annäherungsversuchen zu Boden gerissen, es hagelte und ich stellte mir die Frage: Was ist der Job eines Bergführers?
Mehr und mehr Wolken zogen von Nordwest herauf, bald fielen die ersten Eiskörner auf uns nieder. Ich holte meine Regenjacke raus. Der Standplatz auf dem losen Geröll war nicht sonderlich geschickt gewählt. Monika kam hinter mir ins Straucheln und wollte sich an mir festhalten. Was zur Folge hatte, dass wir beide zu Boden gingen und mir ein Bierchen einbrachte. Da hätte ich mich auch gern noch mal umreißen lassen.
Im unteren Abschnitt des Tals hatten Birgit und Gottfried sichtlich Probleme beim Queren eines Felsbandes. Wolodja sah dem Treiben interessiert zu. Norbert hingegen half den Beiden so gut es ging. Erst als Marion auf dem Geröll ins Rutschen kam und stürzte, schien auch Wolodja sich wieder seines Jobs zu erinnern und ging ihr entgegen. Zum Glück war nichts passiert.
Von Regenschauern heimgesucht erreichten wir nach insgesamt 9 Stunden das Lager der Biosphären Expedition. Wo auch Sascha mit dem LKW wartete. Zurück in unserem Lager gab es erst mal „Mittagessen“, es war jetzt 18:15 Uhr. Daraus zog Klaus die logische Schlussfolgerung, wir hätten heute einen Vormittagsspaziergang gemacht. Das Abendessen war so gegen 21 Uhr geplant.
Gräber, Gräber und noch mal Gräber
In der Steppe lebte zwischen dem 6. und 2. Jh. v. Chr, ein den Skythen verwandter Volksstamm. Den Grabmälern dieses Kulturkreises galt unser Interesse am nächsten Tag. In sogenannten Kurganen wurden ihre mumifizierten Toten beigesetzt. Das im Dauerfrostboden zu Eis erstarrte Kondenswasser konnte die Mumien meist hervorragend erhalten. Einer der bedeutendsten Funde, der nach dem Ort Pazyryk benannten Kultur, gelang einer russischen Forscherin 1993.
Die „Prinzessin von Altai“ getaufte Mumie wurde auf dem Plateau Ukok entdeckt. Das tätowierte Mädchen wurde zusammen mit ihren Pferden und zahlreichen Grabbeigaben bestattet.
Unsere Kurgane sind leer, wie uns Wolodja versicherte. Sie vielen schon zu Zeiten der Völkerwanderung Grabräubern zum Opfer.
Außer den Kurganen gab es noch etwas Interessantes. Aus defekten Armaturen plätscherte kristallklares Wasser, um anschließend wieder im Steppenboden zu versickern. Der Ingenieur Anatolij Winokurow hatte einen Versuch gewagt, die Steppe zu bewässern. Er ließ Löcher in die Erde bohren, um an das Grundwasser heranzukommen und es in Kanälen durch die Steppe zu leiten.
Leider hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Aus den hier lebenden Viehhirten kann man nicht von heute auf morgen Ackerbauern machen. So war sein Projekt schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt gewesen. Die einzigen Nutznießer des Bewässerungsversuches sind Millionen Moskitos, die sich in den flachen Tümpeln sauwohl fühlen und nur darauf zu warten scheinen, dass mal eine Horde Touristen vorbeigekarrt wird, um ihnen dann das Leben zu versauern.
Am Abend waren Gäste eingetroffen. Ein alter Altaier mit seinem Sohn, angeblich die Besitzer oder Verwalter des Landes, auf dem sich unser Lager befand. Offiziell gehöre das Land noch dem Staat, erzählte uns Gottfried. Er hatte zusammen mit Sascha die Familie vor dem Abendessen in ihrer Jurte besucht, um Fotos zu machen und das Leben einer Hirtenfamilie im Altai kennenzulernen. Hier war es Brauch, dass jeder Gast beim Besuch einer Jurte ein Geschenk mitbrachte. Trotzdem der Alte schon voll bis Oberkante Unterkiefer war, ließ Gottfried als Gastgeschenk eine Flasche Wodka da. Es erinnerte mich irgendwie an das „Bunte-Glasperlen-Prinzip“, westlicher Eroberer.
Das sollte sich auch rächen. Während des Abendessens schauten zwei glasige Augenpaare in unser Messzelt. Der Alte schien jemandem zum Quatschen zu brauchen und hatte gleich seine Frau mitgebracht. Dass es nach ein paar Tassen Tee mit Strohrum, den Hagen spendierte, auch bei uns etwas lustiger zuging, schienen die Zwei nicht zu begreifen. Sie fühlten sich beleidigt oder angegriffen und fingen an recht wütend mit Gottfried herumzudiskutieren. Erst Sascha schaffte es mit etwas Mühe beide hinauszubugsieren, damit sie sich in ihr Auto setzten und nach Hause fuhren.
Es sollte meine einzige, wenngleich nicht sehr positive Begegnung mit Einheimischen bleiben.
Die nördliche Tschuja-Kette
Wir verließen unser Lager um 9:45 Uhr. Unser Ziel, das Aktru-Tal in der nördlichen Tschuja-Bergkette. In Kosch-Agatsch erneuerten wir unsere Biervorräte. Wer wollte, konnte nach Hause telefonieren, es kostete 8 Rubel und 90 Kopeken die Minute (Sonntagstarif, etwa 0,25 EUR).
Postkarten abzuschicken erwies sich da schon als komplizierter. Um eine Karte abzuschicken, musste man diese in ein spezielles Kuvert stecken, das es im Moment leider nicht gab.
So gingen wir noch ein paar Kleinigkeiten zum Knabbern einkaufen. In Kosch-Agatsch leben überwiegend Kasachen. Gottfried durfte sich wieder mit einem Besoffenen herumärgern, der unbedingt an die Biervorräte ran wollte, die im LKW verstaut waren. Erst ein paar energische „Dawai’s“ von Sascha, überzeugten den Alten seines Weges zu ziehen.
Mit dem Verlassen der Steppe wurde auch das Wetter schlechter. Im Regen und Nebel stiegen wir das Aktru-Tal hinauf zu einer Berghütte, die Mitglieder des russischen Katastrophenschutzes gebaut hatten.
Die Hütte liegt an einem See der Satschki heißt und als Trinkwasserreservoir dient. Waschen, Zähne putzen oder gar baden gehen war strikt verboten, für uns jedenfalls. Fünfzig Meter von der Hütte entfernt stand die Banja (russische Sauna), über deren Benutzung Olga Iwanowa, die Hüttenchefin mit Argusaugen wachte. Wir hatten zwei Sauna-Besuche frei, jeder weitere kostete 350 Rubel (etwa 10,00 EUR) pro Stunde. Mir war die Sache sowieso zu heiß. Wir wurden auf vier Zimmer verteilt. Ich zog mit Klaus in die erste Etage.
Laut Plan bestand unsere erste Aktion in den Tschuja-Bergen darin, unsere Eisausrüstung auf dem kleinen Aktru-Gletscher zu testen. Wir wanderten zwar in Richtung Gletscher aber ohne Ausrüstung, da unsere Bergführer anscheinend dem Wetter misstrauten. Wir hatten zwar keinen strahlend blauen Himmel aber um mal mit Steigeisen übers Eis zu latschen, hätte es allemal gereicht. So gingen wir ein wenig spazieren, rutschten über abenteuerliche Brücken und versuchten ein Paar Infos über den weiteren Tourenverlauf zu bekommen. Was sich als äußerst kompliziert herausstellte.
Der 3556 m hohe Kupol, laut Programm morgen fällig, ist seit dem Frühling wegen Steinschlaggefahr gesperrt. Über eine Alternative wollte Wolodja noch nicht sprechen. Fest stand nur, der Kupol fällt aus. Den für heute geplanten Ausrüstungscheck auf dem kleinen Aktru-Gletscher würden wir morgen machen.
Meine Eiserfahrung beschränkte sich bis jetzt auf das Fotografieren von Gletschern. So hatte ich auch weder Pickel noch Klettergurte dabei. Lediglich die Steigeisen von meinen Wintertouren in den Karpaten hatte ich noch zu Hause in den Rucksack gestopft. Wenn es sich ergibt, könnte ich mir vielleicht was leihen, dachte ich mir damals. Ich behielt recht. Gurte und Pickel hatten Wolodja und Iwan dabei.
Iwan übernahm die Fortgeschrittenen, Wolodja die Anfänger. Da nur Gottfried, Klaus und ich zur zweiten Gruppe gehörten, unterstützten uns noch Julia und Norbert. Ich fädelte mich in den Gurt, schnallte die Eisen an und hielt meinen Pickel verkehrt herum. „Die Spitze immer nach hinten“, korrigierte mich Norbert. Gottfried hatte ganz andere Probleme. Seine Eisen passten nicht, er musste sie erst einstellen und Klaus hätte es bei einem Sturz aus seinem Gurt gezogen, da sich dieser nicht richtig schließen lies.
Über steiles Eis ging es nach oben, vor uns die Fortgeschrittenen. Wolodja drehte eine Eisschraube ins Eis, die uns als Standsicherung dienen sollte und stieg nach oben, um uns zu sichern. Einer nach dem anderen sollte jetzt aufsteigen und den Nächsten von oben sichern. Der Letzte sollte die Eisschrauben mitbringen.
Gottfried stieg als Erster auf, dann war ich an der Reihe. Oben angelangt fragte mich Wolodja, ob ich meine Prusikschlinge dabei hatte. Hatte ich natürlich nicht. Woher sollte ich auch wissen, dass ich das Teil noch brauchen würde. Daraufhin bekam Gottfried einen Anschiss und ich eine neue Schlinge. Ich sollte Klaus sichern. Irgendetwas stimmte mich nachdenklich. Aus meiner Felskletterzeit konnte ich mich dunkel daran erinnern, dass man zur Sicherung einen sogenannten Halbmastwurf verwendet. Hier wurde das Seil nur im Karabiner umgelenkt. Um sicher zugehen fragte ich Norbert, ob man das hier nicht auch so machen müsste. „Wenn ich mit so einem Bergführer in den Alpen unterwegs wäre, hätte ich ihn nach Hause geschickt und wäre allein weiter gelaufen“, antwortete er. So endete mein erstes Gletscherabenteuer mit sehr verworrenen Eindrücken.
Da sich die Zeit fürs Abendessen um eine halbe Stunde verschob, eröffnete uns Wolodja den weiteren Tourenverlauf, und, was am interessantesten war, er gab die Mannschaft bekannt, die auf den Aktru gehen würde.
Morgen sollte es auf einen Lehrerberg gehen, angeblich damit wir uns noch ein wenig akklimatisierten. Vielleicht war es auch der Ersatz für den Kupol. Übermorgen würde dann die Gruppe, die für den Aktru vorgesehen war, mit Iwan ins Hochlager am Goluboe ozero („Blauen See“) steigen, um am nächsten Tag auf den Gipfel zu gehen.
Die Auserwählten hießen Hagen, Markus und Norbert. Wolodja hatte die Drei vorgeschlagen aufgrund ihrer Fähigkeit, auf den Frontzacken der Steigeisen einen steilen Eisabschnitt im Gletscher hinaufzusteigen. Am Aktru würde es notwendig sein, erklärte er uns. Außerdem würde ein Bergführer nicht mehr als 3 Teilnehmer führen. Es sei denn er könne es verantworten noch jemanden mitzunehmen, und Iwan konnte das. Er schlug mich auch noch vor. Nach einer kurzen Diskussion bekam auch ich das Gipfelticket.
Für Norbert war die Sache eindeutig, er verzichtete auf den Aktru. „Mit den Bergführern geh ich nicht!“, sagte er. „In Deutschland würde ich dafür sorgen, dass die ihre Lizenz verlieren.“ Nicht mal ein gutes Worsin-Bierchen hätte ihn heute wieder umgestimmt.
Worüber uns Wolodja jedoch keine Auskunft geben wollte, war die Organisation des Transports der Zelte und Verpflegung, hoch ins Biwaklager. „Für den Gepäcktransport ist gesorgt; …“, steht im Reiseprogramm. Ich war mir da nicht so sicher.
Bergauf, bergab
Der Gipfel des Lehrerberges lag fast 900 m über unserer Hütte, am Westufer des Aktru-Flusses. Ein schmaler Pfad führte geradewegs steil hinauf. Links und rechts des Weges blühte es in allen Farben. Enzian, Edelweiß, Türkenbundlilien, Nelken und viele Blumen, die ich zum ersten Mal sah.
Weiter oben wurden die blühenden Matten von Geröll abgelöst. Der Gipfel selbst ähnelte einem Haufen Bauschutt. Die Sicht war jedoch einzigartig. Kupol, Karatasch, Snejshnaja, Kyzyltasch, Festiwalnaja und dahinter Aktru. Tief unter uns mäanderte der Aktru-Fluss der Kurajsker-Steppe entgegen. Für uns war es auch an der Zeit aufzubrechen. Das bunte Küchenzelt blinkte zwischen den Bäumen zu uns herauf. In zweieinhalb Stunden würden wir unsere Suppe löffeln.
Es gab Rassolnik, eine Saure-Gurken-Suppe. Ich mochte ja die Suppen, aber den anderen wäre etwas Nahrhaftes nach der 3000er Besteigung lieber gewesen, so war die Stimmung wieder getrübt. Markus hatte keine Lust mehr morgen ins Biwaklager aufzusteigen, seine Kamera war verschwunden. Vermutlich hatte er sie während des Abstiegs am Lehrerberg liegengelassen. Ich fühlte mich wie in dem Kinderlied mit den „Zehn kleinen Negerlein“. Nun waren nur noch Hagen und ich übrig.
Iwan war der Meinung, eine Besteigung des Aktru wäre nur bei Schönwetter machbar. Da das Wetter hier in den Bergen täglich wechselte, wäre eine Besteigung sehr unsicher. Als Kompromiss schlug er uns den Karatasch vor, der technisch auch nicht so schwierig sein sollte.
Mir war es egal, wie der Berg hieß, auf den meine erste Eistour führte. Auch Hagen konnte sich mit dem Vorschlag anfreunden, und so beschlossen wir morgen einen Tagesausflug zum Biwaklager am Goluboe ozero zu unternehmen und übermorgen auf den Karatasch zu steigen. Damit hatte sich für unsere Bergführer das Transportproblem des Gepäcks hoch zum Biwaklager von selbst gelöst.
„Nach einem ca. 3-stündigen Aufstieg von unserer Berghütte aus erreichen wir die kleine Biwakschachtel am Seeufer, …“ steht in meiner Reisebeschreibung. Wir brauchten 2 Stunden.
Birgit hatte uns noch begleitet, da sie mit dem Gedanken spielte, evtl. morgen mit auf den Karatasch zu steigen. Iwan schien von der Idee nicht so begeistert. Überhaupt hatte ich den Eindruck, er würde das Laufen in den Bergen als sportliche Herausforderung sehen. Für Abstecher, z.B. zu einem Wasserfall, hatte er genauso wenig übrig, wie für die Blumen am Wegesrand oder Fotopausen. Seine Aufgabe bestand darin, eine Gruppe möglichst schnell von Punkt A nach Punkt B zu bringen und das war’s – Pflicht erfüllt.
Am See regnete es, sodass wir uns nicht lange aufhielten. Als wir nach reichlich 1,5 Stunden zurück an der Hütte waren, hatte nicht nur Birgit den Gedanken einer Karatasch-Besteigung verworfen, auch Hagen wollte nicht mehr. Jetzt war ich tatsächlich das letzte „kleine Negerlein“.
„Was soll’s“, sagte ich mir. Es wurde Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Meine Trinkflasche musste ich auffüllen. Der Bach, wo ich gestern noch Wasser geholt hatte, war jetzt nicht mehr da. Ein gutes Stück weiter oben, zeigte er sich wieder. Ein Erdrutsch hatte ihn zugeschüttet.
Norbert lieh mir seinen Gurt sowie Schlingen und Karabiner und vergewisserte sich auch, ob mir alles passte. Als alles okay war, blieb nur noch eines – hoffen auf schönes Wetter. Morgen um 7 Uhr sollte es losgehen.
Karatasch
Die Morgensonne ließ die beiden Nachbargipfel des Karatasch, UPI (Uralskij Politechnitscheskij Institut) und DWS erglühen. Kein Wölkchen trübte den Himmel. Es war gerade mal 6 Uhr, Zeit ein paar Bilder zu machen.
Iwan musste noch Feuer entfachen, da die Küchencrew kein Gas mehr hatte. So verzögerte sich unser Abmarsch ein wenig. Auf einem kleinen Gaskocher rührte er eine Tütensuppe an, dazu gab’s etwas Dosenfleisch. Halb acht konnten wir endlich starten.
Auf dem bekannten Weg über die Geröllfelder der Seitenmoräne des kleinen Aktru-Gletschers, erreichten wir nach 40 Minuten den Gletschermund. Die erste halbe Stunde ging es relativ flach über das Eis. Der Mittelteil des Gletschers war am steilsten. Pausen machten wir keine.
Zum Trinken legte sich Iwan bäuchlings aufs Eis und schlürfte das Wasser aus einem der Rinnsale, die hier zahlreich abwärts schossen. Meine Wasserflasche steckte im Rucksack. Doch bevor ich mich aus meinem Rucksack gefädelt hatte, ging es wieder weiter. An einer Wasserstelle gab der Schnee unter mir nach und ich steckte bis zum Knie im Gletscherwasser. „Wollen wir zurück?“, fragte Iwan. Wollte er mich jetzt verarschen?
Ab und zu mussten wir über Spalten hüpfen oder an kleineren senkrechten Absätzen empor klettern. Die einzige Stelle, die mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, war eine Eisbrücke über eine etwa 2 m breite Gletscherspalte. Iwan balancierte über das 30 cm breite Eis. Und ich? Ich kniff. Das Problem war gar nicht mal die Breite, der Steg war auch noch leicht abschüssig. Wenn ich einen Fuß draufsetzte, sah ich mich schon im Abgrund verschwinden.
Ich machte nicht lang rum, hockte mich rittlings auf das Eis und robbte los. Der Eindruck, den ich hinterließ, mochte zwar nicht gerade alpinistisch gewirkt haben, was mir aber ziemlich egal war – es funktionierte.
Nach knapp zwei Stunden Aufstieg wurde der Gletscher flach wie ein Surfbrett, das Laufen machte wieder Spaß. Ein breiter Eisstrom tat sich vor uns auf bis zum Snejshnaja-Berg. Ich zerbrach mir den Kopf, warum der Gletscher „Kleiner Aktru“ hieß. Er hatte mit dem Aktru überhaupt nichts zu tun.
Am Fuß eines steilen Geröllhaufens hielt Iwan. Wir entledigten uns unserer Eisen. Ab jetzt ging es über loses Gestein zum Gipfel. Das lockere Zeug rutschte unter den Füßen weg, es war eine Schinderei. Selbst Iwan stoppte alle zwei bis drei Meter, und mit Sicherheit nicht, um auf mich zu warten.
Nach 3 Stunden, vom Gletscherfuß gerechnet, standen wir endlich ganz oben. Ein Panorama bot sich meinen Augen an. Bis zum höchsten Berg der Nordtschuja-Kette, dem Maaschej (4177 m), reihte sich ein Gipfel an den anderen. Nur vor dem Aktru hielt sich hartnäckig eine Wolke. In dem Sattel unterhalb des Kupol steht eine Biwakschachtel. Iwan holte Brot und Salami raus, ich hatte keinen Hunger. Wir verewigten uns im „Gipfelzettel“, der wieder in einer Filmdose steckte. Das scheint hier üblich zu sein, dachte ich mir. Iwan setzte noch einen Funkspruch zu Wolodja ab, der mit dem Rest der Gruppe zum Goluboe ozero unterwegs war, dann ging es zurück.
Der Abstieg bereitete mir einige Probleme. Wenn Iwan wieder mal zu schnell übers Eis rannte, gab es an meinem Seilende einen Ruck und ich stolperte nach vorn. Das ging mir mit der Zeit ziemlich auf die Nerven. Wenn ich wieder mal so was mache, muss ich mir auch andere Schuhe anziehen, ich hatte Schmerzen in den Fersen.
Trotz kleinerer Wehwehchen erreichte ich nach insgesamt 6 Stunden und 45 Minuten die Hütte im Aktru-Tal. Es war ein gelungener Abschluss, morgen würden wir den Bergen den Rücken kehren und zu unserem letzten Abenteuer aufbrechen – Rafting auf dem Katun.
Katun
Ab jetzt wollten wir uns um unsere Verpflegung selbst kümmern. Von Gries-, Milch-, Hirse- und Buchweizenbrei, trockenem Brot und Dosenfleisch hatten alle genug. Norbert wurde zum Proviantmeister ernannt. Jeder spendete 15,00 EUR und in Aktasch, einer ehemaligen Berggeister– ähm Bergarbeitersiedlung, halfen wir den Lebensmittelläden Rekordumsätze zu machen.
Für nicht mal 30,00 EUR gab es Hühnchen, Salami, Gurken, Tomaten, Melonen, Speck, Brot, Spagetti, Eier, Zwiebeln, Gewürze, usw., usw. bis hin zu Alufolie zum Grillen. Das Essen würde für 11 Personen 3 Abende reichen, obwohl die Hälfte davon noch den Bach runter ging!
1000 EUR hätte Wolodja für unsere Verpflegung bekommen. Da drängt sich mir eine Frage auf liebes Hauser-Team: Wo sind meine Euros hin, wo sind sie geblieben?!? Von Aktasch ging es in strömendem Regen zurück zum Lager Jaloman, wo wir unsere zweite Nacht verbracht hatten. Dort wartete bereits Sergej, der Boss von SIBALP und unsere Rafting-Guides: Alexander, Nikolai (Sergejs Sohn) und noch ein Sergej (Romans jüngerer Bruder).
Außerdem gesellte sich ein weiterer Tourist zu uns, Ruben aus Holland. Er sollte uns die nächsten 3 Tage auf dem Katun begleiten.
Gottfried hatte nun die schwere Aufgabe, Sergej über den Stand der Dinge aufzuklären und weshalb es für einige aus der Mannschaft kein Trinkgeld geben wird. Dass wir heute unser Essen selbst kochten, stimmte Sergej schon etwas nachdenklich. Es folgte eine lange Diskussion zwischen den Beiden.
Wir aßen derweil Spagetti mit Tomatensoße und dazu gemischten Salat und zwar einen Teller für jeden und nicht zwei Teller für die ganze Gruppe. Selbst Klaus bekamen wir satt.
Mit Sascha fuhren wir am Morgen zur Mündung des Jaloman in den Katun. Dort sollte unser Flussabenteuer beginnen. Zwei Schlauchboote, Österreicher der Firma Grabner, breiteten die Jungs am Ufer aus. Eins war für 10 Paddler und einen Kapitän. Das andere war etwas kleiner, 6 Paddler und der Kapitän hatten Platz.
Wir wurden wieder in zwei Gruppen aufgeteilt. Ich durfte mit Julia, Norbert, Klaus und Gottfried im kleinen Boot fahren. Sergej war unser Kapitän. Die anderen fuhren mit Alexander im großen Boot.
Die Ausrüstung steckte in wasserdichten Packsäcken, auch unsere Kameras stopften wir in kleine Säcke. Für einen Teil der Verpflegung gab es Plastiktonnen mit Deckel zum Zuschrauben. Das Bier kam vorn in den Bug.
„Wäre es nicht besser die Kameras in die Tonnen zu packen?“, fragte Gottfried. Ich war zu faul die Tasche wieder aus dem Sack zu zerren. Monika, Norbert und Julia packten noch mal um.
Bevor es endgültig aufs Wasser ging, bekamen wir eine kurze Einweisung von Sergej. „Es gibt Stellen die sind sehr, sehr schwer“, sagte er. „Das dort vorn ist noch gar nichts.“ Seine Hand wies auf eine Stelle flussabwärts, wo es spritzte und brodelte. Irgendwie fand ich das sehr beruhigend. Wusste ich doch aufgrund einschlägiger Erfahrungen, Flüsse mochten mich nicht.
Katun bedeutet auf Deutsch „Prinzessin“, was die Lage nicht gerade verbesserte. Trotz schlechter Vorzeichen booteten wir ein, die Strömung packte uns und 6 Paddel tauchten ins Wasser. Mein Platz war steuerbords an der Spitze des Bootes, mit dem Privileg, den drohenden Gefahren immer direkt ins Auge zu sehen. Das Brodeln kam näher, Sergej gab Kommandos: „Вперёд (Vorwärts)!“ und „raz (eins)! raz! raz!“ Ich wurde kurz geduscht, dann waren wir auch schon durch. Jetzt beruhigte sich der Katun und die nächste knappe Stunde dümpelten wir vor uns hin. Kurz vor der Mündung des Großen Ilgumen gingen wir an Land, die erste richtige Herausforderung stand uns bevor.
Die Ilgumen-Stromschnellen wurden auf der 6-stufigen Schwierigkeitsskala für Wildwasser mit 3 – 4 eingestuft. Am Ufer hockten Touristen, bewaffnet mit Video- und Digitalkameras. Unsere Guides diskutierten über den besten Weg durch die Stromschnellen. „Wenn wir durch sind, gibt’s ein Bier“, sagte Alexander. „Das ist so Tradition bei uns.“ Unser Boot sollte zuerst fahren. Jeder hakte sich an den Beinschlaufen fest. Verkrampfte Hände hielten das Paddel, ein „Вперёд“ von Sergej und los ging’s. „Raz, raz, raz“, Sergejs Kommandos wurden schneller. Der Bug tauchte nach unten, Wasser spritzte mir ins Gesicht. Dann schossen wir wieder nach oben, um gleich darauf in ein Loch zu fallen. Es war wie eine Fahrt mit der Achterbahn auf dem Rummelplatz. Schon konnte ich ruhiges Wasser erkennen. Aber nur für einen Augenblick, dann sah ich nur noch die schwarze Spitze des Bootes über mir tanzen. Wie einen Strohhalm im Wind hatte die letzte Welle unser 4 Meter langes Boot in die Senkrechte befördert. Ich rutschte aus den Sandalen und milchiges Katunwasser schlug über mir zusammen. Kurz darauf tauchte ich auf. „Wenn jemand ins Wasser fällt, immer die Füße stromab bringen“, erinnerte ich mich an Sergejs Worte. Es klappte. Ich war erstaunlich ruhig, fand es sogar witzig. Mein Paddel hielt ich noch in der linken Hand. Bierbüchsen überholten mich, meine Sandalen ebenfalls. Ich musste mich entscheiden und griff nach den Schuhen. Schwimmen konnte ich so aber schlecht. Nach einer Weile klatschte der Rettungsanker hinter mir ins Wasser, gleich darauf noch mal. Ich packte ihn, Sergej holte ein und zog mich ins Boot. Norbert war noch bei ihm, die anderen waren verschwunden.
Wir paddelten ans Ufer, dort krabbelten auch gerade Klaus und Julia an Land, Gottfried blieb verschollen. Sergej band das Boot an einen Stein und lief stromauf, um nach den anderen zu sehen. Das war’s, sagte ich mir. Der Einzige, der Bier bekam, war der Katun. Außerdem behielt er sich noch die Kameras von Monika, Julia und Norbert, einen Großteil unserer Verpflegung und wie wir später feststellten auch das Gestänge von unserem Zelt. Der Deckel der Plastiktonne hatte sich gelöst. Zum Glück konnte Norbert noch Karins Geldbeutel aus dem Wasser fischen. Zusammen mit Sergej musste er das Boot wieder umdrehen, während wir im Wasser schwammen. Allein hätte es Sergej nicht geschafft.
Fast eine Stunde hockten wir am Ufer, von den anderen keine Spur. Mir war die Lust aufs Abenteuer gründlich vergangen. Hätte mich am liebsten nach Nowosibirsk fahren lassen und die restlichen Tage in einem Hotel gelangweilt. Dann endlich kam das andere Boot, mit Gottfried und Sergej an Bord. Wir nahmen wieder unsere Plätze ein. Lustlos und etwas gereizt paddelte ich weiter. Gottfried hatte es schon weiter oben an Land gespült, seine Brille musste er an den Fluss abtreten. Wir paddelten bis zu einem Sandstrand auf dem eine Gruppe Russen Ball spielten. Dort gingen wir an Land, um etwas zu essen. Ruben, der Holländer, hatte die Figur eines texanischen Highschoolboys und er redete auch so. „It was not a good start for you today“, sagte er. „It was a big fuck today!“, antwortete ich ihm und knabberte an einem Keks rum.
Nikolai und Alexander holten Wasser, um zu kochen. Heute würden wir nicht mehr weiter fahren. „Es bringt Unglück, wenn man nach 18 Uhr noch auf dem Wasser ist“, meinte Nikolai. Ich hielt das für einen Witz. Als ich mit Klaus das Zelt aufbauen wollte, merkten wir, dass unser Zeltgestänge auch verschwunden war. Da es sich nicht zusammenklappen lies, lag es lose im Boot und war folglich mit abgesoffen. Nikolai fragte bei den russischen Paddlern nach. Ein tarnuniformierter Typ mit Kopftuch, der mich an die russischen Tschetschenienkämpfer im Fernsehen erinnerte, brachte uns ein zerknautschtes McKinley-Zelt. Besser als nichts. Zwei Nächte würde es schon noch durchhalten.
„How do you like Russia?“, wollte einer der Russen wissen. Ich schaute ihn an und sagte: „Crazy people.“ Er hatte es nur nett gemeint. Hinterher tat es mir leid. Ich war müde und wollte schlafen. Selbst die gegrillten Hühnerschenkel und Kartoffelpuffer konnten meine Stimmung nicht mehr so recht anheben. Klaus verschwand auch ziemlich zeitig im Zelt und selbst unserem Kapitän, Sergej schien das Erlebnis noch in den Knochen zu stecken. Er kroch unter die umgestülpten Schlauchboote und lies sich den ganzen Abend nicht mehr blicken. Julia und Norbert waren noch am besten drauf. Sie stürzten sich in die Küchenarbeit. Ich lag noch lange wach, es fing an zu regnen, draußen quakte Ruben.
Am Morgen sah die Welt schon wieder anders aus. Die Tour schien wieder vielversprechend zu werden. Der erste Abschnitt führte durch einen 8 km langen Cañon, die „Kadrinskaja truba“, an dessen Ausgang zwei Walzen lauerten, die übersetzt „Giftpilze“ heißen. Anschließend würde es durch die Schabasch-Stromschnellen gehen – Schwierigkeit 4 bis 5. Ich würde mit Sicherheit nicht durchfahren, soviel stand fest. Was die „Giftpilze“ betraf, einfach drauf zukommen lassen, dachte ich. In kleiner Dosis genossen, machen die doch „High“, oder?? Alexander, im anderen Boot, war ein ausgezeichneter Indikator für schwierige Stellen. Solange seine Kippe zwischen den Lippen dampfte, war keine Gefahr in Sicht. Hatte er sie nicht mehr im Mund, wurde es ernst. Meistens folgte dann auch schon das obligatorische „Вперёд“ von Sergej.
Das Tal verengte sich und der Fluss wurde quirliger. Wir paddelten, was das Zeug hielt, wurden ab und zu nass oder ruderten in der Luft herum, wenn das Boot gerade auf einem Wellenberg aufsaß. Dann ging es plötzlich nach unten. Eine weiße, schäumende Wasserwand baute sich vor uns auf. Ich wurde auf meinem Sitz hin und her gerissen, dann waren die „Giftpilze“ gegessen. Das stärkte mein Selbstvertrauen ungemein.
Unsere Mittagspause im Anschluss dauerte länger als geplant. Da die Stromschnellen vor der Tür standen, warteten wir auf die anderen Rafter von gestern. Zum Teil fuhren diese mit Katamaranen den Katun hinunter. Wir standen einem Katamaran im Weg, der uns am Heck rammte, was ihm nicht so gut tat. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Mannschaft ihn wieder flott hatte. Gemeinsam ging es dann in Richtung Schabasch.
Die Strömung nahm spürbar zu und von weitem hörte ich das Tosen der Wassermassen. An Land zu paddeln erforderte vollen Einsatz. Das Boot drehte sich, Sergej sprang ins Wasser und zog das Boot ans Ufer, um es festzubinden. Die Stromschnellen bilden 2 Stufen, etwa 100 m auseinander. Einer der Russen sagte, dass er schon 15 Jahre lang auf dem Katun fährt, aber so schwierig wie dieses Mal sahen die Stromschnellen noch nie aus. Wir stiegen aus und suchten uns am Ufer einen Platz, um das weitere Treiben zu verfolgen. Die Boote wurden von den Rafting-Profis durch die Stromschnellen gefahren. Die Touristen blieben zur Sicherheit an Land. Die einzelnen Teams umgingen Stufe eins, sammelten sich im Kehrwasser und dann startete einer nach dem anderen in Richtung Stufe zwei. Beide Stufen zu fahren, schien zu gefährlich. Würde in Stufe eins ein Boot kentern oder ein Mann ging über Bord, wäre ihm ein Vollwaschgang in Stufe zwei sicher gewesen.
Zuerst fuhren die Katamarane, gefolgt von den Schlauchbooten. Unsere Boote bildeten die Schlusslichter. Alexander saß wieder hinten und steuerte, Nikolai und Sergej hockten im Bug. Ich hockte mit Marion auf einem Felsen, wo wir uns als Action-Fotografen übten. Wie bei den Ilgumen-Stromschnellen lauerte auch hier der schwierigste Teil am Ende. Die Katamarane schossen an uns vorbei. Sie hatten null Probleme. Die Schlauchboote umfuhren die Stelle am Ende. Alle? Nein! Alexander hielt voll drauf. Das Boot verschwand, tauchte wieder auf und aus dem Wasser schauten zwei Köpfe. Einer gehörte zu Alexander unserem Kapitän.
Ein Katamaran, der im Kehrwasser wartete, nahm ihn ein Stück weiter unten auf. Auch wir kletterten wieder in die Boote. Bei dem ganzen Stress gab es heute eine Belohnung. An einem Bach der Ursul heißt, gab es ein Touristencamp und die hatten Bier! Mit 20 Liter in den Booten steuerten wir unseren Lagerplatz an, am Großen-Sumulta-Fluss. Mit Omsker Bier und Knoblauchbroten saßen wir bis spät in die Nacht am Lagerfeuer. Ameisen bissen mich in die Zehen, aber ich war zufrieden.
Trotz einer Neoprenallergie, die mich ärgerte, war der letzte Tag auf dem Katun erholsam. Noch eine wirkliche Stromschnelle (3), die zumindest unser Boot souverän meisterte. Die anderen hatten den Eingang verpasst und mussten ihr Boot durchs Flachwasser ziehen – Fotoapparate klickten. Bei Kujos endete unsere mehr als 100 km lange Raftingtour. Sergej, Natascha, Roman und Sascha warteten bereits am Ufer. Dem Katun folgend, fuhren wir zurück nach Anos, wo Sergejs Datscha stand.
Nowosibirsk
Unsere Tour neigte sich langsam ihrem Ende entgegen. Es war an der Zeit Danke und tschüss zu sagen zu unseren Rafting-Guides Alexander, Nikolai und Sergej. Sascha brachte uns mit seinem Kamaz bis Bijsk, wo aus den Flüssen Bija und Katun der Ob entsteht. Dort hieß es dann, auch von Sascha Abschied zu nehmen. Auf uns wartete der Nachtzug nach Nowosibirsk. Natascha teilte uns auf die einzelnen Abteile auf. Ich bezog mit Markus die obere Etage. Es war warm wie im Gewächshaus, die Klimaanlage war defekt. Gottfried hatte die fixe Idee, mit den anderen Reisenden zu verhandeln, ob sie die Plätze tauschen würden. Wer würde schon freiwillig einen guten gegen einen schlechten Platz eintauschen? Die sind doch nicht blöd, die Russen.
Pünktlich um 20:15 Uhr ging es los. Der Waggon stammte aus Deutschland, VEB Waggonbau Ammendorf stand auf einem Schildchen. Neun Sunden und vierzig Minuten dauerte die Fahrt. Mit dem Bus hatten wir auf der Anreise nur 6 Stunden gebraucht. Wir fuhren demnach definitiv nicht mit einem Schnellzug.
Etwas schlaftrunken stolperte ich in Nowosibirsk aus dem Zug. Wir fuhren ins Hotel „Tsentralnaja“. Im Buffet, das einer sozialistischen Arbeiterkantine ähnelte, gab es erst mal Frühstück. Die Zimmer waren okay nur rasieren fiel aus, warmes Wasser gab es nicht. Das kam mir bekannt vor. War bis jetzt in jedem Hotel so, welches ich östlich der Donau besuchte.
Dann durfte uns Natascha ihre Stadt zeigen, was ihr auch sichtlich mehr Spaß machte als dolmetschen in den Bergen des Altai. Mir hätte es ja gereicht mich irgendwo hinzuhocken, ein Bierchen zu trinken und den Passanten zuzuschauen. So fühlte ich mich nach einem Tag Stadtbesichtigung kaputter, als nach den Bergtouren mit Iwan. Wir starteten mit der Post. Wer etwas zu verschicken hatte, konnte es jetzt tun, ohne spezielle Umschläge. Dann ging es weiter: Geld tauschen auf der Bank, auf dem Bahnhof Fahrplan kaufen, Buchläden inspizieren, Besichtigung der Kathedrale, Mittagessen gehen, Besuch des Marktes, am Lenindenkmal war’s genug. Erst das Abschlussessen erquickte wieder die Lebensgeister. Auf dem Speiseplan stand Salatbuffet, was das Hauptgericht anging, hatten wir freie Wahl. Sergej hielt seine Abschiedsrede, in der er sich entschuldigte für das, was schief gelaufen war. „So etwas wird nie wieder vorkommen. Wenn sie wieder mal nach Sibirien kommen, können sie sich davon überzeugen“, sagte er. Was wollte er verkaufen? Die Gelegenheit wird wohl niemand mehr von unserer Gruppe haben.
Morgen würde es zurück nach Deutschland gehen, vorher aber stand noch ein Besuch der mineralogischen Sammlung, des geologischen Instituts in Akademgorodok auf dem Programm. Steine?? Lange Gesichter in der Gruppe. Doch Margarita, eine Wissenschaftlerin des Geologischen Instituts liebte „ihre Steine“ und das spürte man. „Bitteschön, verstehen sie mich?“, fragte sie und führte uns durch die Gänge des Saales zu den einzelnen Vitrinen, wo ihre Schätze lagerten – Gold, Diamanten, Meteoriten. „Der Amethyst zum Beispiel dürfe in keinem russischen Haushalt fehlen“, erzählte sie uns. „Er schützt vor Trunkenheit.“, sie schmunzelte. „Oder schauen sie!“, der rote Punkt ihres Laserpointers huschte auf ein durchsichtiges Mineral. Auf einem Zettel stand eine Zahl die man, wenn man durch den Stein schaute, doppelt sah. Eine Folge der Lichtbrechung, nicht unseres Restalkohols!
„Der Smaragd festigt die Treue“, der Punkt ruhte auf grün schimmernden Kristallen. „Aber den gibt’s in Russland nicht mehr.“ Die Stunde verging wie im Flug und am Ende machte Margarita auch gut Umsatz mit Mineralien aus ihrer Heimat. Beim Mittagessen beglich Gottfried noch unsere Bier- und Wodkarechnung bei Sergej, dann fuhren wir zum Flughafen Tolmachovo. Sergej drückte jedem die Hand, dann wurden wir der Öffentlichkeit entrissen. Da ich den russischen Röntgengeräten nicht traute, lies ich meine Filme händisch begutachten. Das Einchecken kam uns teuer zu stehen. Niemand hatte uns darauf hingewiesen, dass das Handgepäck in das zulässige Gewicht des Gepäcks eingeschlossen war. Ungefähr 80 Rubel kostete das Kilo Übergewicht. Julia und Norbert zahlten extra, da sie bis München durchcheckten. Da halfen auch Gottfrieds Diskussionen mit den Angestellten von Sibiria Airlines nichts.
Erleichtert, um 37 Dollar pro Nase, betrat der Rest der Gruppe die TU 204. Auch das kam mir bekannt vor, erinnerte mich irgendwie an Zug fahren in Rumänien mit ungültigem Zuschlagticket. Den allgemeinen Verdacht, dass die Waage manipuliert wäre, kann ich nicht bestätigen. Mein Rucksack wog zu Hause 300 g weniger als im Flughafen von Nowosibirsk. Um 16:20 Uhr stiegen wir auf. Ich kaute auf meinem Startbonbon herum und hoffte auf der anderen Seite wieder sicher runterzukommen.
6 Stunden später: Die Kabinentür wurde geöffnet, ich trat auf die Gangway. „Ihren Pass bitte!“ Das klang vertraut, zwei stoppelhaarige Pausbacken vom Bundesgrenzschutz bei ihrer Pflichterfüllung – ich war wieder daheim.
Nachwort
Ich bin mir jetzt absolut sicher, dass ich ohne Probleme als Individualtourist nach Russland/Sibirien fahren kann, um wandern zu gehen. Das auf der Tour einiges schief lief ist schade. Ich möchte jetzt weder Hauser noch SIBALP verdammen. Immerhin gab es Gruppenmitglieder, die schon auf mehreren Hauser-Touren unterwegs waren und denen es immer gefallen hat. Wenn mein Reisebericht etwas zum Nachdenken anregt und man versucht die Sache das nächste Mal besser zu machen, habe ich mein Ziel erreicht. Für alle anderen Leser sage ich nur: „Fahrt mal nach Russland, schaut es euch an, es lohnt sich!“
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